»Einzelheiten«, bohrt sie nach, ohne sich in ihrem Sessel zu rühren. Ihre Augen blicken ihn weiter unverwandt an. »Was genau hast du bestellt, und was hattest du den restlichen Tag über gegessen?«
»Ich dachte, wir wollten beim Polizeiclub anfangen und nicht damit, was ich davor gegessen hatte.«
»Hast du gestern gefrühstückt?«, hakt sie beharrlich und geduldig nach. Dieser Tonfall ist bei ihr sonst für Menschen reserviert, die zurückbleiben, nachdem jemand durch Zufall, höhere Gewalt oder Mord ums Leben gekommen ist.
»Ich habe in meinem Zimmer einen Kaffee getrunken«, antwortet er.
»Einen Imbiss? Mittagessen?«
»Nein.«
»Darüber halte ich dir ein andermal einen Vortrag«, meint sie.
»Also den ganzen Tag nichts gegessen. Nur Kaffee. Und dann bist du um sieben in den Polizeiclub gegangen. Hast du auf nüchternen Magen getrunken?«
»Ich habe mir ein paar Biere genehmigt. Danach habe ich ein Steak mit Salat gegessen.«
»Keine Kartoffeln oder Brot? Keine Kohlenhydrate? Hast du dich an deine Diät gehalten?«
»Mh-hm. So etwa die einzige gute Angewohnheit, von der ich gestern Nacht nicht abgewichen bin.«
Obwohl sie nichts darauf erwidert, ahnt er, dass sie seine nahezu kohlenhydratfreie Diät für keine gute Angewohnheit hält. Aber sie wird ihn jetzt mit einem Vortrag über seine Essgewohnheiten verschonen. Schließlich sitzt er gerade auf dem Bett und fühlt sich elend und verkatert und scheußlich und hat eine Todesangst, weil er vielleicht eine schwere Straftat begangen hat oder einer solchen bezichtigt werden könnte, sofern das nicht bereits geschehen ist. Er betrachtet den grauen Himmel jenseits der Fensterscheibe und stellt sich vor, wie ein ziviler Crown Victoria der Polizei von Richmond auf der Suche nach ihm durch die Straßen kurvt. Verdammt, vielleicht ist ja Detective Browning persönlich unterwegs, um ihm den Haftbefehl zuzustellen.
»Was passierte dann?«, fragt Scarpetta.
Marino malt sich aus, wie er auf der Rückbank des Crown Victoria sitzt, und überlegt, ob Browning ihm wohl Handschellen anlegen würde. Er könnte Marino aus Respekt unter Kollegen ungefesselt ins Auto setzen. Genauso gut aber könnte er diesen Respekt in den Wind schlagen und die Handschellen hervorziehen. Bestimmt würde er die Handschellen nehmen, denkt Marino.
»Du hast nach sieben Uhr ein paar Biere getrunken und ein Steak mit Salat gegessen«, fordert Scarpetta ihn in ihrer sanften, aber unerbittlichen Art zum Weitersprechen auf. »Wie viele Biere waren das denn genau?«
»Vier, glaube ich.«
»Du sollst nicht glauben. Wie viele?«
»Sechs«, entgegnet er.
»Gläser, Flaschen oder Dosen? Große? Normale? In anderen Worten: Wie groß waren diese Biere?«
»Sechs Flaschen Budweiser. Normale. Das ist übrigens nicht sehr viel für mich. Das vertrage ich locker. Für mich sind sechs Biere wie ein halbes für dich.«
»Sehr unwahrscheinlich«, erwidert sie. »Über deine Rechenkünste unterhalten wir uns später.«
»Ich brauche deine Vorträge nicht«, nuschelt er und starrt sie dann verstockt schweigend an.
»Sechs Biere und ein Steak mit Salat im Polizeiclub mit Junius Eise und Detective Browning. Und wann hast du das Gerücht aufgeschnappt, dass ich möglicherweise nach Richmond zurückkehre? Könnte das während deines Abendessens mit Eise und Browning gewesen sein?«
»Du kannst ja tatsächlich zwei und zwei zusammenzählen«, sagt er mürrisch.
Eise und Browning saßen ihm gegenüber am Tisch. Unter einer roten Glasglocke flackerte eine Kerze, und sie tranken alle drei Bier. Eise fragte Marino nach seiner Meinung über Scarpetta. Ist sie wirklich so eine tolle Medizinerin und Chefin?
Sie ist zwar die Größte, aber sie lässt es nicht raushängen, waren Marinos Worte. So viel weiß er noch. Und er erinnert sich daran, was er empfunden hat, als Eise und Browning anfingen, über sie zu sprechen und zu mutmaßen, sie würde wieder zur Chefpathologin ernannt werden und nach Richmond zurückkehren. Marino gegenüber hat sie das mit keiner Silbe erwähnt, und er fühlte sich gedemütigt und wütend. Das war der Augenblick, in dem er beschloss, von Bier auf Bourbon umzusteigen.
Ich fand sie schon immer scharf, wagte dieser vertrottelte Eise zu sagen. Daraufhin bestellte Marino den ersten Bourbon. Die hat ganz schön Holz vor der Hütte, fügte Eise ein paar Minuten später hinzu und hielt sich grinsend die gewölbten Hände vor die Brust. Hätte nichts dagegen, der mal unter den Labormantel zu fassen. Tja, Sie arbeiten ja schon seit einer Ewigkeit mit ihr zusammen, richtig? Wenn man sie jeden Tag um sich hat, fällt einem ihr Aussehen wahrscheinlich gar nicht mehr auf.
Da Marino nicht wusste, was er darauf erwidern sollte, leerte er den ersten Bourbon und bestellte dann den nächsten. Allein bei der Vorstellung, wie Eise ihren Körper angafft, hätte er ihm am liebsten eine runtergehauen. Aber natürlich hat er das nicht getan. Er hat einfach nur dagesessen und getrunken und versucht, nicht daran zu denken, wie sie aussieht, wenn sie den Labormantel auszieht und ihn über einen Stuhl oder an den Haken an der Tür hängt. Er gab sich größte Mühe, das Bild auszublenden, wie sie an einem Tatort aus der Kostümjacke schlüpft, die Manschetten ihrer Bluse aufknöpft und die nötigen Kleidungsstücke an- oder auszieht, wenn eine Leiche auf sie wartet. Sie hatte schon immer ein unbefangenes Verhältnis zu ihrem Körper, das frei von jeglichem Exhibitionismus ist, und bemerkt ihre Reize gar nicht. Es interessiert sie einfach nicht, ob jemand sie beobachtet, während sie Knöpfe öffnet, Kleidungsstücke ablegt, sich vorbeugt und sich bewegt. Schließlich arbeitet sie, und den Toten ist es gleichgültig, was sie zu sehen bekommen. Sie sind ja tot. Nur Marino lebt. Vielleicht ist ihr das noch gar nicht aufgefallen.
»Ich wiederhole: Ich habe nicht die Absicht, nach Richmond zurückzukehren«, verkündet Scarpetta. Sie sitzt mit überkreuzten Beinen im Sessel. Der Saum ihrer dunklen Hose ist mit Schlamm gesprenkelt. Ihre Schuhe sind so verschmiert, dass man sich kaum vorstellen kann, wie glänzend schwarz sie noch heute Morgen gewesen sind. »Außerdem glaubst du doch nicht im Ernst, dass ich derartige Pläne schmieden könnte, ohne es dir zu erzählen.«
»Man kann nie wissen«, entgegnet er.
»Natürlich weißt du es.«
»Ich ziehe nicht wieder hierher. Vor allem jetzt nicht mehr.«
Als es an der Tür klopft, macht Marinos Herz einen Satz, und er denkt sofort an Polizei, Gefängnis und Gerichtsverhandlung. Erleichtert schließt er die Augen, als eine Stimme jenseits der Tür »Zimmerservice« ruft.
»Ich mache auf«, sagt Scarpetta.
Marino blickt ihr nach, als sie das kleine Zimmer durchquert und die Tür öffnet. Wenn sie allein wäre und er sich nicht im Zimmer befände, würde sie vermutlich fragen, wer da ist, und durch den Spion schauen. Aber sie macht sich keine Sorgen, denn schließlich ist Marino ja bei ihr, der einen halbautomatischen Colt .280 im Knöchelhalfter trägt. Auch wenn das natürlich nicht heißt, dass es nötig werden könnte, zu schießen. Allerdings hätte er nichts dagegen, jemanden so richtig zu vermöbeln. Er hätte einen Heidenspaß daran, seine riesigen Fäuste gegen den Kiefer oder in den Solarplexus eines anderen Menschen zu rammen wie damals, als er noch geboxt hat.
»Wie geht es Ihnen heute?«, fragt der picklige junge Mann in Uniform, während er den Wagen hineinrollt.
»Ausgezeichnet«, erwidert sie und kramt einen ordentlich gefalteten Zehn-Dollar-Schein aus der Hosentasche. »Sie können den Wagen da stehen lassen. Danke.« Sie reicht ihm den gefalteten Geldschein.
»Danke, Ma’am. Einen schönen Tag noch.« Er macht die Tür leise hinter sich zu.
Marino, immer noch auf dem Bett, rührt sich nicht. Nur seine Augen bewegen sich, als er sie beobachtet. Er sieht zu, wie sie die Plastikfolie von dem Bagel und dem Haferbrei entfernt, ein Würfelchen Butter auswickelt, sie unter den Haferbrei mischt und Salz darauf streut. Dann öffnet sie ein weiteres Butterwürfelchen und bestreicht den Bagel. Anschließend schenkt sie zwei Tassen Tee ein. Sie gibt keinen Zucker hinein. Genau genommen ist auch gar kein Zucker da, nirgendwo auf dem Wagen ist welcher zu entdecken.