»Hier«, sagt sie und stellt den Haferbrei und eine Tasse starken Tee auf das Nachtkästchen. »Iss.« Sie kehrt zum Wagen zurück, um den Bagel zu holen. »Je mehr du isst, desto besser. Wenn du wieder einigermaßen auf dem Damm bist, wirst du vielleicht auf wundersame Weise von deinem Gedächtnisschwund geheilt.«
Beim Anblick des Haferbreis zieht sich sein Magen zusammen, aber er nimmt dennoch die Schale und taucht langsam den Löffel hinein. Als sich der Löffel in den Brei bohrt, muss er daran denken, wie Scarpetta mit dem Gaumenspatel im Schlamm auf dem Asphalt herumgekratzt hat. Dann fällt ihm etwas anderes ein, das ihn an Haferbrei erinnert, und er wird wieder von Widerwillen und Reue ergriffen. Wenn er nur zu betrunken gewesen wäre, um es zu tun. Aber er hat es getan. Beim Anblick des Haferbreis ist er sicher, dass er es letzte Nacht getan und die Sache zu Ende gebracht hat.
»Ich kann das nicht essen«, sagt er.
»Iss«, entgegnet sie. Wie eine Richterin thront sie kerzengerade auf ihrem Sessel und fixiert ihn mit Blicken.
Er kostet den Haferbrei und stellt überrascht fest, dass er ziemlich gut schmeckt und angenehm die Kehle hinuntergleitet. Ehe er es sich versieht, hat er die ganze Schale ausgelöffelt und macht sich über den Bagel her. Währenddessen spürt er, wie sie ihn beobachtet. Sie spricht kein Wort, und er weiß genau, warum sie ihn schweigend anstarrt. Er hat ihr noch nicht die Wahrheit gesagt und hält die Einzelheiten zurück, die ganz sicher seine Phantasien zerstören werden. Sobald sie es weiß, ist seine Chance dahin, und auf einmal steckt ihm der Bagel so trocken in der Kehle, dass er ihn nicht schlucken kann.
»Geht es dir ein bisschen besser? Trink einen Schluck Tee«, schlägt sie vor. Nun sieht sie wirklich wie eine Richterin aus, die dunkel gekleidet und aufrecht auf dem Sessel am Fenster sitzt. »Iss den Bagel auf, und trink wenigstens eine Tasse Tee. Du musst etwas in den Magen kriegen, und außerdem bist du ausgetrocknet. Ich habe Advil-Kopfschmerztabletten da.«
»Ja, eine Advil wäre prima«, antwortet er kauend.
Sie greift in ihre Nylontasche, und die Tabletten klappern, als sie das Advil-Fläschchen herausholt. Auf einmal schrecklich hungrig, kaut er und spült mit Tee nach. In die Kissen gelehnt, sieht er zu, wie sie zu ihm geht. Mühelos entfernt sie den kindersicheren Verschluss, da solche Hindernisse in ihren Händen einfach nicht existieren, schüttelt zwei Tabletten heraus und legt sie ihm in die Handfläche. Ihre Finger sind beweglich und stark und wirken klein in seiner riesigen Hand, als sie leicht seine Haut streifen. Die Berührung fühlt sich wundervoller an als das meiste, was er bis jetzt erlebt hat.
»Danke«, sagt er, während sie wieder zu ihrem Sessel geht.
Wenn es sein muss, würde sie einen Monat lang in diesem Sessel sitzen bleiben. Und vielleicht sollte er es darauf ankommen lassen. Sie darf erst gehen, wenn ich es ihr erlaube. Ich wünschte, sie würde aufhören, mich so anzustarren.
»Wie geht es deinem Gedächtnis?«, fragt sie.
»Weißt du, es gibt Dinge, die sind für immer verloren. So was passiert eben manchmal«, antwortet er, leert die Teetasse und passt auf, dass ihm die Tabletten nicht im Halse stecken bleiben.
»Manche Erinnerungen kehren nie zurück«, stimmt sie zu. »Andere waren nie völlig verschwunden. Und über einiges kann man einfach nicht reden. Du hast also mit Eise und Browning Bourbon getrunken? Und was war dann? Um wie viel Uhr ungefähr hast du mit dem Bourbon angefangen?«
»So zwischen halb neun und neun. Dann hat mein Mobiltelefon geläutet, und Suz war dran. Sie war völlig aufgelöst, hat gesagt, sie müsse mit mir reden, und hat mich gebeten, zu ihr zu kommen.« Er hält inne und wartet auf Scarpettas Reaktion. Sie braucht es nicht auszusprechen. Es reicht, dass sie es denkt.
»Bitte erzähl weiter«, meint sie.
»Ich weiß, was jetzt in dir vorgeht. Du findest, ich hätte in meinem angetrunkenen Zustand nicht hinfahren dürfen.«
»Ich habe keine Ahnung, was ich finde«, erwidert sie.
»Mir ging es gut.«
»Was verstehst du unter angetrunken?«, hakt sie nach.
»Das Bier und ein paar Bourbon.«
»Ein paar?«
»Nicht mehr als drei oder vier.«
»Sechs Bier sind einhundertsiebzig Gramm Alkohol. Drei Bourbon machen noch einmal zwischen einhundertdreizehn und einhunderteinundvierzig Gramm, abhängig davon, wie gut man den Barmann kennt«, rechnet sie weiter. »Und das alles innerhalb eines Zeitraums von drei Stunden. Das sind bei konservativer Schätzung ungefähr zweihundertachtzig Gramm. Sagen wir mal, du baust achtundzwanzig Komma fünfunddreißig Gramm pro Stunde ab, was der Norm entspräche. Das heißt, dass du noch etwa einhundertachtundneunzig Gramm intus hattest, als du den Polizeiclub verlassen hast.«
»Scheiße«, sagt er. »Auf diese Aufrechnung hätte ich verzichten können. Aber mir ging es prima, ich schwöre.«
»Du verträgst eine ganze Menge. Aber im Sinne des Gesetzes warst du betrunken, und zwar jenseits aller Promillegrenzen«, entgegnet die Medizinerin und Rechtsanwältin. »Deutlich über eins Komma null. Ich nehme an, dass du wohlbehalten bei ihr angekommen bist. Wie spät war es inzwischen?«
»Vielleicht halb elf. Schließlich habe ich nicht jede gottverdammte Minute auf die Uhr geschaut.« Er starrt sie an und fühlt sich wie ein schwarzer Klotz, wie er so in den Kissen auf dem Bett lehnt. Was dann geschah, brodelt finster in ihm, und er will den Schritt in die Dunkelheit nicht wagen.
»Ich höre«, sagt Scarpetta. »Wie geht es dir? Möchtest du mehr Tee? Oder noch etwas zu essen?«
Er schüttelt den Kopf und macht sich Sorgen, die Tabletten könnten irgendwo stecken geblieben sein und ihm Löcher in die Kehle brennen. Inzwischen spürt er an so vielen Stellen ein Brennen, dass zwei Punkte mehr oder weniger kaum auszumachen wären. Doch er hat keine Lust darauf.
»Sind die Kopfschmerzen besser?«
»Warst du schon mal beim Psychologen?«, fragt er plötzlich. »Denn genau so fühle ich mich jetzt. Als ob ich mit einem Psychologen in diesem Zimmer säße. Aber da ich noch nie bei einem war, habe ich keine Ahnung, ob der Vergleich stimmt. Ich dachte, du wüsstest es vielleicht.« Er kann nicht sagen, warum er damit herausgeplatzt ist. Hilflos und zornig sieht er sie an, bereit, alles zu tun, um der brodelnden Dunkelheit zu entrinnen.
»Reden wir nicht über mich«, erwidert sie. »Ich bin keine Psychologin, und du müsstest das eigentlich am besten wissen. Hier geht es nicht darum, warum du etwas getan oder nicht getan hast, sondern nur um das Was. Das Was ist unser Problem, und das ist ein Thema, das Psychiater normalerweise nicht interessiert.«
»Ich weiß. Also geht es um das Was. Aber ich habe keine Ahnung, Doc. Bei Gott, das ist die Wahrheit«, lügt er.
»Gehen wir noch ein Stück zurück. Du bist also zu ihr gefahren. Wie? Du hattest den Mietwagen nicht dabei.«
»Taxi.«
»Hast du die Quittung noch?«
»Wahrscheinlich in der Jackentasche.«
»Es wäre gut, wenn du sie noch hättest«, meint sie.
»Sie müsste in irgendeiner Tasche stecken.«
»Du kannst sie später suchen. Was geschah dann?«
»Ich bin ausgestiegen und zur Tür spaziert und habe geklingelt. Sie machte auf und hat mich reingelassen.« Jetzt steht die brodelnde Dunkelheit dicht vor ihm wie ein Sturm, der jeden Moment über ihn hereinbrechen wird. Als er tief Luft holt, pocht ihm der Schädel.
»Marino, es ist in Ordnung«, sagt sie. »Du kannst es mir erzählen. Wir müssen herausfinden, was passiert ist. Ganz genau. Um mehr geht es hier nicht.«
»Sie … äh … hatte Stiefel an wie ein Soldat … schwarze Lederstiefel mit Stahlkappen. Militärstiefel. Und ein großes T-Shirt in Tarnfarben.« Die Dunkelheit verschluckt ihn, und es ist, als würde sie ihn mit Haut und Haaren verschlingen, bis überhaupt nichts mehr von ihm übrig bleibt. »Nichts drunter. Ich war ein bisschen verdattert und hatte keine Ahnung, warum sie sich so angezogen hatte. Aber ich habe mir nichts dabei gedacht, wenigstens nicht das, was du jetzt glaubst. Dann hat sie die Tür hinter mir zugemacht und mich angefasst.«