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»Nein, Doc, da bin ich mir sicher. Aber vielleicht ist das bei mir anders. Eigentlich dachte ich das nicht, aber es könnte so sein. Ich weiß noch, wie ich auf die Uhr geschaut habe und echt Schwierigkeiten hatte, die Zeit abzulesen. Meine Augen sind sowieso nicht mehr das, was sie einmal waren, und ich habe alles verschwommen gesehen. Außerdem war ich aufgekratzt, total aufgekratzt, und zwar auf eine unangenehme Weise. Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, warum ich mitgemacht habe.«

Der Schweiß brach ihm aus, als er hinter der Tür stand und versuchte, die Zeit abzulesen. Dann begann er, lautlos bis sechzig zu zählen, kam aber aus dem Takt und fing wieder von vorne an, bis er sicher war, dass die fünf Minuten abgelaufen waren. Seine Erregung war, soweit er sich erinnerte, nicht mit dem zu vergleichen, was er je für eine Frau oder überhaupt bei einer Begegnung mit dem anderen Geschlecht empfunden hatte. Als er hinter der Tür hervorkam, bemerkte er, dass das ganze Haus in Dunkelheit lag. Er konnte die Hand nicht vor Augen sehen, außer er hielt sie sich dicht vors Gesicht. Während er sich die Wände entlangtastete, wurde ihm klar, dass sie ihn hören konnte. Und in diesem Moment erkannte er trotz seines betrunkenen Zustandes, dass sein Herz klopfte und dass sein Atem schwer ging, weil er erregt war und Angst hatte. Doch er möchte nicht, dass Scarpetta von seiner Angst erfährt. Dann streckte er die Hand nach seinem Knöchel aus, verlor das Gleichgewicht und fand sich auf dem Fußboden im Flur wieder, wo er nach seiner Pistole suchte. Aber die Pistole steckte nicht im Halfter. Er weiß nicht, wie lange er dort gesessen hat. Es ist sogar möglich, dass er kurz eingeschlafen ist.

Als er wieder auf dem Dielenboden zu sich kam, hatte er seine Pistole immer noch nicht, und das Herz schlug ihm bis zum Halse. Er rührte sich nicht und wagte kaum, Atem zu holen. Der Schweiß lief ihm ins Gesicht, während er lauschte und zu hören versuchte, wo der Mistkerl steckte. Die Dunkelheit war undurchdringlich, schwer und erstickend und legte sich wie ein schwarzes Tuch um ihn, als er sich so lautlos wie möglich aufrappelte, um seine Position nicht zu verraten. Irgendwo war der Dreckskerl, und Marino hatte keine Waffe. Die Arme ausgestreckt wie Ruder, berührte er kaum die Wände, als er weiterschlich und die Ohren spitzte, sprungbereit und wohl wissend, dass er erschossen werden würde, wenn er das Drecksschwein nicht zuvor überraschte.

Langsam wie eine Katze schlich er weiter, alle Sinne auf den Feind gerichtet. Dabei kam ihm immer wieder die Frage in den Sinn, wie er überhaupt in dieses Haus geraten war. Was war das eigentlich für ein Haus und wo zum Teufel steckte die Verstärkung? Wo, verdammt noch mal, blieben denn bloß die anderen? O mein Gott, vielleicht hatte es sie ja erwischt. Vielleicht war er der letzte Überlebende und würde nun ebenfalls dran glauben müssen, weil er unbewaffnet war und auch sein Funkgerät verloren hatte. Außerdem wusste er nicht, wo er war. Und dann spürte er einen Schlag und wurde von der pulsierenden Dunkelheit aufgesogen, einer Dunkelheit, die ihm bei jeder Bewegung den Atem raubte. Im nächsten Moment kam ein Schmerz, ein brennender Schmerz, als sich die Dunkelheit regte und, begleitet von schrecklichen schmatzenden Geräuschen, nach ihm griff.

»Ich weiß nicht, was passiert ist«, hört er sich sagen, und es erstaunt ihn, dass seine Stimme so normal klingt, weil er sich innerlich fühlt, als hätte er den Verstand verloren. »Ich habe keine Ahnung. Ich bin in ihrem Bett aufgewacht.«

»Angezogen?«

»Nein.«

»Wo waren deine Kleider und deine Sachen?«

»Auf einem Sessel.«

»Auf einem Sessel? Ordentlich hingelegt?«

»Ja, ziemlich. Meine Kleider lagen dort, und obendrauf war meine Pistole. Ich habe mich im Bett aufgesetzt, aber es war niemand da«, antwortet er.

»War ihre Seite des Bettes zerwühlt? Sah sie aus, als hätte jemand darin geschlafen?«

»Die Decke war runtergezogen und total verdreht. Doch es war niemand da. Ich habe mich umgeschaut und hatte keinen Schimmer, wo ich war. Dann fiel mir wieder ein, dass ich letzte Nacht mit dem Taxi zu ihr gefahren und dass sie an die Tür gekommen war, so angezogen, wie ich es dir schon erzählt habe. Als ich mich umsah, habe ich auf dem Nachtkästchen auf meiner Bettseite ein Glas Bourbon und ein Handtuch bemerkt. Das Handtuch war voller Blut, und ich habe einen ganz schönen Schrecken gekriegt. Ich wollte aufstehen, aber es ging nicht. Ich saß einfach da und kam nicht hoch.«

Er stellt fest, dass seine Teetasse voll ist, und es erschreckt ihn, dass er gar nicht mitbekommen hat, wie Scarpetta aus ihrem Sessel aufgestanden ist, um sie nachzufüllen. Vielleicht hat er es ja auch selbst getan, aber das bezweifelt er. Er hat das Gefühl, dass er seine Körperhaltung auf dem Bett nicht verändert hat, und als er auf die Uhr blickt, wird ihm klar, dass über drei Stunden vergangen sind, seit er und Scarpetta ihr Gespräch in diesem Hotelzimmer begonnen haben.

»Hältst du es für möglich, dass sie dich unter Drogen gesetzt hat?«, fragt Scarpetta. »Leider denke ich nicht, dass ein Drogentest jetzt noch etwas nützen würde. Es ist zu lange her. Hängt aber auch von dem Medikament ab.«

»Eine Superidee. Wenn ich einen Drogentest mache, kann ich genauso gut gleich selbst die Cops verständigen, vorausgesetzt, sie hat es nicht bereits getan.«

»Erzähl mir von dem blutigen Handtuch«, sagt Scarpetta.

»Ich weiß nicht, von wem das Blut war. Vielleicht war es meins. Mein Mund tat weh.« Er berührt ihn. »Ich hatte schreckliche Schmerzen. Wahrscheinlich steht sie drauf, anderen wehzutun. Aber ich kann nur sagen … Tja, keine Ahnung, was ich mit ihr gemacht habe, denn ich habe sie nicht mehr gesehen. Sie war im Bad, und als ich nach ihr rief, um festzustellen, wo sie steckte, fing sie an, mich anzuschreien, und kreischte, ich sollte sofort verschwinden. Sie brüllte, ich … sie hat entsetzliche Sachen gesagt.«

»Vermutlich hast du nicht daran gedacht, das blutige Handtuch mitzunehmen.«

»Ich weiß nicht einmal mehr, wie ich es geschafft habe, ein Taxi zu rufen, um von dort wegzukommen. Alles weg. Aber es muss so gewesen sein. Nein, das Handtuch habe ich nicht mitgenommen, verdammt.«

»Du bist direkt in die Gerichtsmedizin gefahren.« Sie runzelt leicht die Stirn, so als ob ihr dieser Teil nicht ganz schlüssig erscheint.

»Ich habe mir unterwegs einen Kaffee besorgt. In einer Seven-Eleven-Filiale. Dann habe ich den Taxifahrer gebeten, mich ein Stück entfernt vom Büro abzusetzen, weil ich ein paar Schritte zu Fuß gehen wollte. Ich habe gehofft, davon einen klareren Kopf zu kriegen. Es hat ein wenig geholfen, denn danach fühlte ich mich wieder halbwegs wie ein Mensch. Und als ich ins Büro kam, stand sie plötzlich vor mir.«

»Hast du davor deine Mailbox abgehört?«

»Oh. Kann sein.«

»Sonst hättest du von der Besprechung gar nichts wissen können.«

»Nein, ich war bereits informiert«, erwidert Marino. »Eise hat mir im Polizeiclub erzählt, er hätte Marcus eine Meldung gemacht. Per E-Mail, hat er gesagt.« Er überlegt. »Ach ja, jetzt fällt es mir ein. Marcus hat ihn sofort nach Erhalt der E-Mail angerufen und ihm mitgeteilt, er werde für den nächsten Vormittag eine Sitzung anberaumen. Eise solle auf jeden Fall im Haus sein, damit man ihn, wenn nötig, hinzuziehen könne, falls es Fragen gäbe.«

»Also wusstest du schon gestern Abend von der Sitzung«, meint Scarpetta.

»Ja, da habe ich zum ersten Mal davon gehört. Eise meinte, dass du auch dabei sein würdest. Und deshalb habe ich beschlossen, ebenfalls zu kommen.«

»Und du wusstest auch, dass die Sitzung um halb zehn war?«

»Muss wohl so gewesen sein. Tut mir Leid, ich erinnere mich so schlecht, Doc.« Er sieht sie an und fragt sich, worauf sie hinauswill. »Warum? Was ist denn so wichtig an dieser Sitzung?«

»Er hat es mir erst heute Morgen um halb neun mitgeteilt«, erwidert sie.

»Offenbar will er mit dir Schlitten fahren«, meint Marino, der Dr. Marcus auf den Tod nicht ausstehen kann. »Warum steigen wir nicht in den nächsten Flieger nach Florida? Scheiß auf den Typen.«