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»Hat Mrs. Paulsson mit dir gesprochen, als ihr euch heute Morgen im Büro getroffen habt?«

»Sie hat mich nur angeschaut und ist davon stolziert. So als hätte sie mich ihr Lebtag nicht gesehen. Ich blicke da nicht mehr durch, Doc. Ich weiß nur, dass etwas Schlimmes passiert ist. Außerdem habe ich eine Todesangst, dass ich was angestellt haben könnte und nun die Folgen tragen muss. Nach all dem Mist, den ich im Leben gebaut habe, wird diese Sache mir das Genick brechen. Schluss, aus, vorbei.«

Langsam steht Scarpetta aus ihrem Sessel auf. Obwohl sie müde wirkt, ist sie hellwach. Er liest die Sorge in ihrem Blick, und er bemerkt auch, dass sie nachdenkt und offenbar Schlüsse zieht, die ihm um sein Leben nicht einfallen wollen. Gedankenverloren sieht sie aus dem Fenster und geht dann zum Servierwagen, um sich den letzten Rest Tee einzuschenken.

»Sie hat dir wehgetan, richtig?«, sagt sie, bleibt neben dem Bett stehen und schaut zu ihm herunter. »Zeig mir, was sie mit dir gemacht hat.«

»Das kommt überhaupt nicht in Frage! Ich kann nicht«, protestiert er in einem weinerlichen Tonfall, der klingt, als wäre er wieder zehn Jahre alt. »Das geht auf gar keinen Fall!«

»Soll ich dir helfen oder nicht? Oder glaubst du, du hättest Körperteile, die ich noch nicht kenne?«

Er schlägt die Hände vors Gesicht. »Ich kann nicht.«

»Du könntest auch die Polizei anrufen. Dann bringen sie dich aufs Revier und fotografieren deine Verletzungen. Anschließend brauchst du nur noch Anzeige zu erstatten. Vielleicht wäre das sogar das Beste, vorausgesetzt, dass sie die Polizei bereits verständigt hat. Allerdings denke ich das nicht.«

Er senkt die Hände und blickt sie an. »Warum?«

»Warum ich das denke? Ganz einfach. Alle Welt weiß, dass wir in diesem Hotel wohnen. Oder ist Detective Browning etwa nicht informiert? Hat er nicht deine Telefonnummern? Warum also ist dann die Polizei noch nicht hier, um dich festzunehmen? Man möchte doch meinen, dass es ein gefundenes Fressen für sie wäre, wenn Gilly Paulssons Mutter die Notrufnummer wählt und dich der Vergewaltigung bezichtigt. Und warum hat sie nicht Zeter und Mordio geschrien, als sie dich im Büro gesehen hat? Du hattest sie gerade vergewaltigt, und sie macht weder eine Szene, noch ruft sie gleich nach der Polizei?«

»Kommt nicht in Frage, dass ich die Cops verständige«, erwidert er.

»Dann musst du dich mit mir begnügen.« Sie kehrt zu ihrem Sessel zurück, holt ihre Tatorttasche, öffnet sie und nimmt eine Digitalkamera heraus.

»Du heiliger Strohsack«, stöhnt er und starrt auf die Kamera, als wäre sie eine auf ihn gerichtete Waffe.

»Klingt fast, als wärst du das Opfer«, meint sie. »Offenbar will sie dich glauben machen, dass du ihr etwas angetan hast. Warum?«

»Wenn ich das wüsste. Keine Ahnung.«

»Du bist nur verkatert, nicht verblödet, Marino.«

Er sieht sie an und betrachtet dann die Kamera in ihrer herunterhängenden Hand. In ihrem dunklen, mit Schlamm bespritzten Hosenanzug steht Scarpetta mitten im Zimmer.

»Wir sind hier, um wegen des Mordes an ihrer Tochter zu ermitteln, Marino. Und anscheinend ist Mama auf irgendwelche Vorteile, Geld, Aufmerksamkeit oder sonst etwas aus. Ich werde schon noch dahinterkommen, was sie will. O ja. Ich werde es rauskriegen. Also zieh dich schon endlich aus, und zeig mir, was diese Frau dir während ihres perversen Spielchens gestern Nacht angetan hat.«

»Was wirst du jetzt bloß von mir denken?«, antwortet er und zieht vorsichtig sein schwarzes Polohemd über den Kopf. Es tut weh, wenn der Stoff die Bisswunden und Saugspuren auf seiner Brust streift.

»Du meine Güte. Sitz still. Verdammt, warum hast du mir das nicht schon früher gezeigt? Wenn wir die Wunden nicht versorgen, wirst du eine Infektion kriegen. Und du hast Angst, dass sie die Polizei rufen könnte? Bist du denn völlig übergeschnappt?« Beim Reden fotografiert sie, lässt die Linse seinen Körper entlanggleiten und macht Nahaufnahmen von jeder Verletzung.

»Aber ich habe doch nicht gesehen, was ich ihr getan habe«, erwidert er, ein wenig ruhiger, als ihm klar wird, dass eine Untersuchung durch Doc Scarpetta weniger schlimm ist, als er es sich vorgestellt hat.

»Wenn du sie nur halb so oft gebissen hättest wie sie dich, müsstest du jetzt Zahnschmerzen haben.«

Als er sorgfältig seine Zähne überprüft, spürt er nichts. Sie fühlen sich an wie immer und tun Gott sei Dank auch nicht weh.

»Was ist mit deinem Rücken?«, fragt sie und lehnt sich über ihn.

»Da habe ich keine Schmerzen.«

»Beug dich vor und lass sehen.«

Er gehorcht und spürt, wie sie vorsichtig die Kissen von seinem Rücken wegschiebt. Ihre warmen Finger berühren sanft die Haut zwischen den Schulterblättern und drücken ihn weiter nach vorne, damit sie seinen Rücken in Augenschein nehmen kann. Er überlegt, ob sie je seinen nackten Rücken angefasst hat. Hat sie nicht. Das wüsste er nämlich noch.

»Was ist mit deinen Genitalien?«, fragt sie dann, als ob das etwas Alltägliches wäre. Als er nicht antwortet, hakt sie nach: »Marino, hat sie dich an den Genitalien verletzt? Hast du da etwas, das ich fotografieren und außerdem behandeln sollte? Oder wollen wir lieber so tun, als wüsste ich aus irgendeinem Grund nicht, dass du wie die Hälfte der restlichen Menschheit männliche Genitalien besitzt? Tja, sie hat dich offenbar auch dort verletzt, denn sonst hättest du schon längst widersprochen. Richtig?«

»Richtig«, nuschelt er und hält sich die Hände zwischen die Beine. »Ja, ich habe Schmerzen. Zufrieden? Aber du hast doch jetzt genug Material, um deine Theorie zu beweisen und zu belegen, dass sie mich verletzt hat, ganz egal was ich mir, wenn überhaupt, habe zuschulden kommen lassen.«

Scarpetta setzt sich, keinen halben Meter von ihm entfernt, auf die Bettkante und sieht ihn an. »Was hältst du davon, es mir zu beschreiben. Dann können wir ja immer noch entscheiden, ob du die Hose ausziehen musst.«

»Sie hat mich gebissen. Überall. Und ich habe Blutergüsse.«

»Ich bin Ärztin«, sagt Scarpetta.

»Das weiß ich. Aber du bist nicht meine Ärztin.«

»Wenn du sterben würdest, wäre ich es. Wer, glaubst du, würde dich untersuchen und jede verdammte Kleinigkeit herausfinden wollen, wenn sie dich umgebracht hätte? Aber du bist nicht tot, wofür ich ausgesprochen dankbar bin. Allerdings wurdest du angegriffen und hast dieselben Verletzungen, die du auch haben könntest, wenn du tot wärst. Würdest du mich also bitte nachsehen und feststellen lassen, ob du ärztlich behandelt werden musst und ob Fotos nötig sind?«

»Was für eine Behandlung?«

»Vermutlich nichts, was sich nicht mit ein bisschen Betadine hinkriegen ließe. Ich besorge welches in der Apotheke.«

Er versucht, sich vorzustellen, was passieren wird, wenn sie ihn nackt sieht. Sie hat ihn noch nie nackt gesehen und weiß nicht, was er zu bieten hat oder ob er überdurchschnittlich oder unterdurchschnittlich gebaut ist, auch wenn normal unter normalen Umständen eigentlich ausreichend wäre. Er fragt sich, mit welcher Reaktion er wohl rechnen muss, weil er keine Ahnung hat, was ihr gefällt oder woran sie gewöhnt ist. Also ist es wahrscheinlich unklug, die Hose ausziehen. Dann jedoch denkt er an die Fahrt auf der Rückbank des Zivilfahrzeugs, die erkennungsdienstliche Behandlung und den Prozess und öffnet Hosenknopf und Reißverschluss.

»Wenn du jetzt lachst, werde ich dich für den Rest deines Lebens hassen«, sagt er. Sein Gesicht glüht rot, er schwitzt, und der Schweiß brennt ihm auf der Haut.

»Du armer Junge«, antwortet sie. »Dieses durchgeknallte Miststück.«

31

Ein kalter und heftiger Regen fällt, als Scarpetta am Straßenrand hält und vor Suzanna Paulssons Haus parkt. Mit laufendem Motor bleibt sie eine Weile im Wagen sitzen. Die Scheibenwischer gleiten hin und her, während sie den unebenen, mit Backsteinen gepflasterten Weg betrachtet, der zu der schiefen Veranda führt. Sie stellt sich vor, wie Marino letzte Nacht dort entlanggegangen ist. Weitere Details braucht sie sich nicht auszumalen.