Er hat ihr mehr verraten, als er glaubt. Und was sie gesehen hat, war schlimmer, als sie sich hat anmerken lassen. Auch wenn er meint, ihr nicht jede Einzelheit anvertraut zu haben, weiß sie genug. Sie schaltet die Scheibenwischer ab und sieht zu, wie die Regentropfen gegen das Glas prallen und daran herunterlaufen. Inzwischen regnet es so kräftig, dass sie nur noch ein beständiges Prasseln hört und das Wasser auf der Windschutzscheibe aussieht wie Wellen aus Eis. Suzanna Paulsson ist zu Hause. Ihr Minivan steht am Straßenrand, und im Haus brennt Licht. Bei diesem Wetter ist sie sicher nicht zu Fuß unterwegs.
In Scarpettas Mietwagen gibt es keinen Regenschirm, und sie hat keinen Hut dabei. Als sie aussteigt, wird das Prasseln schlagartig lauter, und der Regen peitscht ihr ins Gesicht, während sie die alten, glitschigen Backsteine entlanghastet, die zum Haus eines toten Mädchens mit einer sexuell gestörten Mutter führen. Vielleicht ist das Urteil »sexuell gestört« ja übertrieben. Scarpetta geht in sich, aber sie ist viel wütender, als Marino ahnt. Möglicherweise ist ihm gar nicht klar, wie wütend sie ist, aber sie kocht innerlich, und Mrs. Paulsson wird gleich eine Kostprobe davon zu spüren kriegen. Scarpetta klopft nachdrücklich mit der Messingananas an die Eingangstür und überlegt, was sie tun soll, wenn die Frau sich weigert aufzumachen oder wenn sie – wie Fielding – so tut, als wäre sie nicht zu Hause. Wieder klopft sie mit der Ananas an, diesmal langsamer und fester.
Wegen des Unwetters nähert sich die Dunkelheit rasch wie eine Wand aus schwarzer Tinte. Scarpetta kann ihren eigenen Atem sehen, als sie im Platzregen auf der Veranda steht und immer wieder anklopft. Ich bleibe einfach hier, denkt sie. Du kannst dich nicht drücken. Glaube bloß nicht, dass ich mich umdrehe und einfach weggehe. Sie nimmt ihr Mobiltelefon und einen Zettel aus der Manteltasche und wirft einen Blick auf die Nummer, die sie sich bei ihrem gestrigen Besuch hier notiert hat. Damals, als sie noch ruhig und freundlich mit dieser Frau gesprochen und Mitleid mit ihr gehabt hat. Sie wählt und hört, wie drinnen im Haus das Telefon läutet. Dann lässt sie wieder die Ananas gegen die Tür krachen. Es ist ihr egal, ob der Türklopfer dabei kaputtgeht.
Nach einer weiteren Minute wählt sie noch einmal. Drinnen läutet und läutet das Telefon, und sie hängt ein, bevor der Anrufbeantworter anspringt. Du bist da, denkt sie. Also tu nicht so, als wärst du es nicht. Scarpetta tritt von der Tür zurück und betrachtet die erleuchteten Fenster an der Vorderfront des kleinen Backsteinhauses. Die zarten weißen Vorhänge sind zugezogen und werden von innen von einem weichen, warmen Licht erhellt. Sie sieht eine menschliche Silhouette am Fenster vorbeihuschen, die innehält und dann kehrtmacht und verschwindet.
Wieder klopft sie an die Tür und wählt dann noch einmal die Nummer. Als erneut der Anrufbeantworter anspringt, bleibt Scarpetta am Apparat und sagt: »Mrs. Paulsson, hier spricht Dr. Kay Scarpetta. Bitte machen Sie die Tür auf. Es ist sehr wichtig. Ich stehe vor Ihrem Haus. Ich weiß, dass Sie da sind.« Sie beendet das Telefonat und klopft wieder. Der Schatten erscheint, diesmal am Fenster links von der Tür. Dann geht die Tür auf.
»Ach, du meine Güte!«, ruft Mrs. Paulsson in gespieltem Erstaunen – allerdings nicht sehr überzeugend – aus. »Ich wusste nicht, wer es ist. Was für ein Unwetter! Kommen Sie rein, Sie sind ja ganz nass. Ich mache nie auf, wenn ich nicht weiß, wer draußen steht.«
Scarpetta tritt tropfend ins Wohnzimmer und zieht den langen, dunklen klatschnassen Mantel aus. Kaltes Wasser rinnt aus ihrem Haar. Als sie die feuchten Strähnen aus dem Gesicht schiebt, bemerkt sie, dass es so nass ist, als käme sie gerade aus der Dusche.
»Mein Gott, Sie werden sich noch eine Lungenentzündung holen«, sagt Mrs. Paulsson. »Aber was rede ich. Schließlich sind Sie die Ärztin. Kommen Sie in die Küche, ich gebe Ihnen etwas Warmes zu trinken.«
Scarpetta sieht sich im winzigen Wohnzimmer um. Sie betrachtet die kalte Asche und die verkohlten Holzscheite im Kamin, das karierte Sofa unter dem Fenster und die Türen auf beiden Seiten des Wohnzimmers, die in andere Teile des Hauses führen. Als Mrs. Paulsson bemerkt, was Scarpetta da tut, tritt ein harter Ausdruck in ihr Gesicht, das fast hübsch, aber auch billig und derb wirkt.
»Warum sind Sie hier?«, fragt Mrs. Paulsson mit veränderter Stimme. »Was wollen Sie? Ich dachte, es wäre wegen Gilly, aber jetzt merke ich, dass es offenbar nicht so ist.«
»Ich bin nicht sicher, ob überhaupt je ein Mensch wegen Gilly hier war«, entgegnet Scarpetta. Sie steht mitten im Wohnzimmer, hinterlässt Pfützen auf dem Parkett und schaut sich unverhohlen um.
»Sie haben nicht das Recht, so was zu sagen«, zischt Mrs. Paulsson. »Ich glaube, Sie sollten jetzt besser gehen. Leute wie Sie will ich nicht in meinem Haus haben.«
»Ich bleibe. Rufen Sie doch die Polizei, wenn Sie möchten. Aber ich werde erst verschwinden, nachdem wir uns über die letzte Nacht unterhalten haben.«
»Ich sollte wirklich die Polizei verständigen. Nach dem, was dieses Ungeheuer mir angetan hat. So viel habe ich durchgemacht, und dann kommt jemand, nutzt das aus und hält sich an einem trauernden Menschen wie mir schadlos. Ich hätte es wissen müssen. Er sieht ganz danach aus.«
»Nur zu«, erwidert Scarpetta. »Rufen Sie ruhig die Polizei. Ich habe auch eine Geschichte zu erzählen, und zwar eine ziemlich spannende. Wenn es Sie nicht stört, schaue ich mich jetzt ein bisschen um. Ich weiß, wo Gillys Zimmer und die Küche sind. Und wenn ich durch diese Tür gehe und mich links anstatt rechts halte, komme ich vermutlich in Ihr Schlafzimmer.« Mit diesen Worten marschiert sie los.
»Sie können nicht einfach in meinem Haus herumspazieren«, protestiert Mrs. Paulsson. »Hauen Sie ab, und zwar ein bisschen plötzlich! Sie haben keinen Grund, hier herumzuschnüffeln.«
Das Schlafzimmer ist nur unwesentlich größer als das Zimmer von Gilly. Es ist mit einem Doppelbett mit antiken Nachtkästchen aus Walnussholz zu beiden Seiten und zwei an die Wand gedrängten Kommoden möbliert. Eine Tür führt in ein kleines Badezimmer, eine andere in einen Wandschrank. Und dort, deutlich sichtbar auf dem Boden, steht ein Paar schwarzer Kampfstiefel aus Leder. Scarpetta wühlt in ihrer Jackentasche und holt ein Paar Baumwollhandschuhe heraus, die sie überstreift, während sie in der Tür des Wandschranks steht und die Stiefel betrachtet. Sie lässt den Blick über die hängenden Kleidungsstücke gleiten, macht auf dem Absatz kehrt und geht ins Bad. Über den Badewannenrand ist ein Tarn-T-Shirt gebreitet.
»Er hat Ihnen wohl ein Märchen aufgetischt«, sagt Mrs. Paulsson vom Fußende des Bettes aus. »Und Sie glauben ihm. Wir werden ja sehen, was die Polizei von der Sache hält. Ich denke nicht, dass sie Ihnen beiden Ihre Geschichte abkauft.«
»Wie oft haben Sie Soldat gespielt, wenn Ihre Tochter dabei war?«, fragt Scarpetta und blickt ihr in die Augen. »Offenbar hatte Frank Spaß daran. Haben Sie das Spiel von ihm gelernt? Oder haben Sie diese hässliche kleine Perversion selbst erfunden? Wie oft haben Sie es in Gillys Gegenwart getan, und wer war sonst noch dabei, während Gilly im Haus war? Gruppensex? Haben Sie das mit ›sie‹ gemeint? Andere Leute, die das Spiel mit Ihnen und Frank gespielt haben?«
»Wie können Sie es wagen, mir so etwas zu unterstellen!«, empört sie sich, und ihr Gesicht verzerrt sich vor Abscheu und Wut. »Davon weiß ich nichts.«
»Ach, zurzeit sind eine ganze Menge Unterstellungen im Umlauf, und es wird wahrscheinlich noch einige mehr geben«, erwidert Scarpetta, nähert sich dem Bett und schlägt mit behandschuhter Hand die Decke zurück. »Macht nicht den Eindruck, als hätten Sie die Bettwäsche gewechselt. Sehr gut. Sehen Sie die Blutflecke hier auf diesem Lacken? Welche Summe sind Sie bereit zu wetten, dass es sich um Marinos Blut handelt, nicht um Ihres?« Sie sieht Mrs. Paulsson forschend an. »Denn im Gegensatz zu Ihnen hat Marino Verletzungen. Und das ist wirklich merkwürdig. Außerdem muss hier irgendwo ein blutiges Handtuch herumliegen.« Sie sieht sich um. »Kann sein, dass Sie es gewaschen haben, aber das spielt keine Rolle. Auch aus gewaschenen Stoffen können wir die nötigen Spuren sicherstellen.«