»Was Menschen miteinander machen, ist persönlich.« Sie weicht ihrem Blick aus.
»Wenn Sie jemandem blutende Wunden und Blutergüsse zufügen, ist das nicht persönlich, sondern eine Straftat. Stehen Sie auf Sex mit Gewalt?«
»Anscheinend sind Sie ganz schön prüde«, entgegnet Mrs. Paulsson, schlendert zum Tisch und setzt sich. »Es gibt offenbar eine Menge Sachen, von denen Sie noch nie gehört haben.«
»Das könnte stimmen. Also erzählen Sie mir von Ihrem Spiel.«
»Fragen Sie ihn doch selbst.«
»Ich weiß, was Marino zu Ihrem Spiel zu sagen hat, zumindest dem von letzter Nacht.« Scarpetta trinkt einen Schluck Kaffee. »Sie machen das schon seit einer Weile, richtig? Hat es mit Ihrem Ex-Mann angefangen? Mit Frank?«
»Ich bin nicht verpflichtet, mit Ihnen zu reden«, erwidert sie, immer noch am Tisch sitzend. »Und ich sehe auch keinen Grund dazu.«
»Sie meinten, Frank könnte etwas über die Rose wissen, die wir in Gillys Kommode gefunden haben. Was sollte das heißen?«
Sie schweigt verstockt, sitzt mit wütender, hasserfüllter Miene am Tisch und umfasst die Kaffeetasse mit beiden Händen.
»Mrs. Paulsson, denken Sie, dass Frank Gilly etwas angetan hat?«
»Ich hab keine Ahnung, von wem die Rose ist«, sagt sie und starrt auf dieselbe Stelle an der Wand wie bei Scarpettas gestrigem Besuch. »Ich weiß nur, dass sie nicht von mir ist. Vorher war sie nicht da, wenigstens nicht in ihrem Zimmer, jedenfalls habe ich sie nicht dort gesehen. Und ich hatte erst am Tag zuvor Wäsche und andere Dinge in ihre Schubladen geräumt. Gilly war recht unordentlich, und ich musste ständig hinter ihr herräumen. Aber ich habe nie eine Rose gesehen. Sie hätte nie selbst etwas weggeräumt, und wenn es um ihr Leben gegangen wäre.« Mrs. Paulsson bricht ab und starrt wieder schweigend an die Wand.
Scarpetta wartet ab, ob sie etwas hinzufügen wird. Doch etwa eine Minute lang herrscht bedrückende Stille.
»Am schlimmsten war es in der Küche«, fährt Mrs. Paulsson schließlich fort. »Sie nahm Lebensmittel aus dem Kühlschrank und vergaß sie einfach auf der Anrichte. Sogar Eiscreme. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viel Essen ich wegwerfen musste.« Trauer malt sich in ihrem Gesicht. »Und Milch. Ständig habe ich Milch weggeschüttet, weil sie sie den halben Tag lang draußen stehen ließ.« Ihre Stimme hebt und senkt sich und beginnt zu zittern. »Wissen Sie, wie es ist, wenn man ununterbrochen hinter jemandem herräumt?«
»Ja«, erwidert Scarpetta. »Das ist einer der Gründe, warum ich geschieden bin.«
»Tja, Frank ist nicht viel besser«, meint sie und blickt ins Leere. »Bei den beiden war ich nur am Aufräumen.«
»Was, glauben Sie, könnte Frank Gilly angetan haben, falls es überhaupt so war?«, fragt Scarpetta, wobei sie sich Mühe gibt, die Frage so zu formulieren, dass die Antwort nicht einfach »ja« oder »nein« lauten kann.
Mrs. Paulsson schaut weiter starr an die Wand. »Auf seine Weise hat er sicher etwas getan.«
»Ich meine körperlich. Gilly ist tot.«
Ihre Augen füllen sich mit Tränen, die sie grob mit der Hand abwischt, während sie weiter an die Wand schaut. »Er war nicht da, als es passierte. Nicht im Haus, soviel ich weiß.«
»Als was passierte?«
»Während ich im Drugstore war. Was auch immer in dieser Zeit geschah.« Wieder wischt sie sich über die Augen. »Das Fenster war offen, als ich nach Hause kam. Als ich ging, war es zu gewesen. Keine Ahnung, ob sie es aufgemacht hat. Damit will ich nicht behaupten, dass es Frank war. Nur, dass er etwas damit zu tun hat. Alles, was in seine Nähe geriet, starb oder ging kaputt. Komisch, so etwas von einem Arzt sagen zu müssen. Wissen Sie, was ich meine?«
»Ich gehe jetzt, Mrs. Paulsson. Mir ist klar, dass dieses Gespräch nicht einfach für Sie war. Sie haben meine Mobilfunknummer. Wenn Ihnen noch etwas Wichtiges einfällt, würde ich mich über Ihren Anruf freuen.«
Sie nickt und bricht in Tränen aus.
»Vielleicht war zuvor noch jemand in diesem Haus, von dem wir wissen sollten. Jemand außer Frank. Vielleicht ein Mensch, den Frank eingeladen hat und den er kannte. Jemand, der das Spiel gespielt hat.«
Mrs. Paulsson steht nicht auf, als Scarpetta zur Tür geht.
»Überlegen Sie, ob Ihnen noch jemand einfällt«, wiederholt Scarpetta. »Gilly ist nicht an der Grippe gestorben. Wir müssen herausfinden, was genau ihr zugestoßen ist. Und wir werden es erfahren. Früher oder später. Ich glaube, früher wäre Ihnen lieber, oder?«
Mrs. Paulsson starrt nur an die Wand.
»Sie können mich jederzeit anrufen«, spricht Scarpetta weiter. »Ich gehe jetzt. Falls Sie etwas brauchen, melden Sie sich bei mir. Außerdem wäre es schön, wenn Sie ein paar große Müllsäcke dahätten.«
»Unter dem Spülbecken. Wenn sie für das sind, was ich glaube, können Sie sich die Mühe sparen«, murmelt sie.
Scarpetta öffnet das Unterschränkchen und zieht vier große Müllsäcke aus Plastik aus einem Karton. »Ich nehme sie trotzdem mit«, entgegnet sie. »Hoffentlich ist es wirklich überflüssig.«
Im Schlafzimmer sammelt sie die zusammengerollte Bettwäsche, die Stiefel und das T-Shirt ein und verstaut sie in den Müllsäcken. Dann zieht sie im Wohnzimmer den Mantel an und tritt wieder hinaus in den Regen. Sie trägt vier Säcke, zwei voller schwerer Bettwäsche und zwei, die nur jeweils ein T-Shirt und ein Paar Stiefel enthalten. Kaltes Wasser spritzt hoch und durchweicht ihre Schuhe, als sie in die Pfützen auf dem Backsteinweg tritt, und halb gefrorener Regen prasselt auf sie herab.
32
In der Other Way Lounge ist es sehr dunkel. Die Frauen, die dort arbeiten, haben aufgehört, Edgar Allan Pogue erst mit neugierigen, dann mit herablassenden und schließlich mit gleichgültigen Blicken anzusehen, und ignorieren ihn inzwischen. Er spielt mit dem Stiel einer Cocktailkirsche herum und bindet ihn gemächlich zu einem Knoten.
In der Other Way Lounge trinkt er immer Bleeding Sunsets, eine Spezialität des Hauses, die aus einer Mischung aus Wodka und »anderem Zeug« besteht, wie er es nennt. »Anderes Zeug« ist orangerot und schwebt wie Nebelfetzen zum Boden des Glases. Ein Bleeding Sunset sieht aus wie ein Sonnenuntergang, bis sich die verschiedenen Flüssigkeiten, Siruparten und das »andere Zeug« miteinander mischen und der Drink einfach nur noch orangefarben ist. Wenn das Eis schmilzt, sehen die undefinierbaren Reste in seinem Glas aus wie das Orangensaftgetränk aus seiner Kinderzeit. Es wurde in Plastikorangen verkauft, und man trank es mit einem grünen Strohhalm, der den Stiel darstellen sollte. Das Orangensaftgetränk war wässrig und schmeckte langweilig, obwohl die Plastikorange eine erfrischende Köstlichkeit verhieß. Bei jedem Besuch in Südflorida hat er seine Mutter angebettelt, ihm eine dieser Plastikorangen zu kaufen, und jedes Mal war er wieder enttäuscht.
Mit Menschen ist es wie mit diesen Plastikorangen und ihrem Inhalt. Zwischen äußerem Schein und Geschmack besteht ein himmelweiter Unterschied. Er hebt sein Glas und lässt den orangefarbenen Nebel am Boden kreisen. Dabei überlegt er, ob er noch einen Bleeding Sunset bestellen soll, rechnet nach, wie viel Geld er noch hat, und denkt auch an seinen Alkoholpegel. Er ist kein Trinker. Das war er noch nie. Er war noch nie im Leben betrunken. Die Vorstellung, betrunken zu sein, macht ihm Angst, und er kann keinen Bleeding Sunset oder ein anderes alkoholisches Getränk zu sich nehmen, ohne jedes Schlückchen mitzuzählen und sich das Hirn über die Folgen zu zermartern. Außerdem achtet er auf seine Figur, und Alkohol ist ein Dickmacher. Seine Mutter war dick und wurde immer dicker, was eine Schande war, denn früher war sie einmal hübsch gewesen. Das liegt in der Familie, pflegte sie zu sagen. Wenn du dich weiter so voll stopfst, wirst du schon noch sehen, was ich meine. Am Bauch fängt es meistens an.
»Ich hätte gern noch einen«, sagt Edgar Allan Pogue in den Raum hinein.
Die Other Way Lounge besteht aus einem sehr kleinen Raum, in dem Holztische mit schwarzen Decken stehen. Auf den Tischen befinden sich zwar Kerzen, doch all die Male, die er schon hier war, haben sie noch nie gebrannt. In der Ecke gibt es einen Billardtisch, doch er hat noch nie jemanden daran spielen sehen, und er hat die Vermutung, dass sich die Kundschaft nicht für Billard interessiert und dass der zerkratzte Tisch mit der roten Filzbespannung ein Überbleibsel aus einer früheren Epoche ist. Wahrscheinlich war die Other Way Lounge einmal eine ganz andere Art von Lokal. Nichts bleibt, wie es ist.