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»Ich denke, sie tut, was ihr gefällt«, entgegnet er tonlos und voller Abscheu. Seine Empörung wird ein wenig von Scham gedämpft.

»Erinnerst du dich, ob sie betrunken war?«

»Sie war total high«, erwidert er. »Sie schwebte irgendwo.«

»Nur vom Alkohol, oder hat sie vielleicht sonst was genommen?«

»Ich habe nicht gesehen, dass sie Tabletten eingeworfen, was geraucht oder sich was gespritzt hätte. Aber mir ist wahrscheinlich eine ganze Menge entgangen.«

»Jemand muss mit Frank Paulsson reden«, meint Scarpetta mit einem Blick in einen anderen Bericht. »Abhängig davon, was wir morgen rauskriegen, könnten wir ja Lucy um Hilfe bitten.«

Ein listiger Ausdruck huscht über Marinos Gesicht, und er lächelt zum ersten Mal seit Stunden. »Gute Idee. Sie ist ja Pilotin. Hetzen wir sie dem Perversen auf den Hals.«

»Genau.« Scarpetta blättert um und holt tief Luft. »Nichts«, sagt sie. »Absolut nichts, was mir mehr über Gilly verraten würde. Sie wurde erstickt und hatte Lack- und Metallsplitter im Mund. Mr. Whitbys Verletzungen hingegen weisen deutlich darauf hin, dass er von dem Traktor überrollt worden ist. Aber wir sollten uns den Spaß erlauben, nachzuprüfen, ob er möglicherweise Verbindungen zu den Paulssons hatte.«

»Sie weiß es sicher«, meint Marino.

»Du rufst sie nicht an.« In dieser Situation kann sie nicht anders, als ihm Vorschriften zu machen. Er darf Suzanna Paulsson nicht anrufen. »Provoziere es nicht.« Sie sieht ihn an.

»Ich habe doch nicht gesagt, dass ich es tun werde. Vielleicht kannte sie ja den Traktorfahrer. Verdammt, möglicherweise hat er auch mitgespielt, und sie hatten einen Perversenclub.«

»Tja, Nachbarn sind sie jedenfalls nicht.« Scarpetta studiert die Papiere in Whitbys Akte. »Er hat in der Nähe des Flughafens gewohnt, nicht dass das unbedingt eine Rolle spielen muss. Während ich morgen im Labor bin, könntest du dich ja ein bisschen umhören.«

Marino antwortet nicht. Er hat keine Lust, mit der Polizei von Richmond zu sprechen.

»Du musst dich dem stellen«, meint sie und klappt die Akte zu.

»Wem stellen?« Er betrachtet das Telefon am Bett und denkt wahrscheinlich wieder an Bier.

»Das weißt du genau.«

»Ich kann es nicht leiden, wenn du so daherredest«, erwidert er gereizt. »So als ob ich deine Andeutungen verstehen müsste. Auch wenn es bestimmt Typen gibt, die für eine Frau, die sich kurz fasst, dankbar wären.«

Ein wenig amüsiert, verschränkt sie die Hände auf dem Aktenordner. So unwirsch reagiert er immer, wenn sie Recht hat. Sie wartet ab, was er als Nächstes sagen wird.

»Meinetwegen«, sagt er, als er das Schweigen nicht mehr ertragen kann. »Wem soll ich mich stellen? Erklär mir einfach, was zum Teufel Sache ist, denn ich drehe allmählich durch.«

»Du musst dich dem stellen, was du fürchtest. Und du fürchtest dich vor der Polizei, weil du immer noch Angst hast, dass Mrs. Paulsson dich angezeigt haben könnte. Hat sie aber nicht. Und sie wird es auch nicht tun. Also bring es hinter dich, dann legt sich auch die Angst.«

»Es geht nicht um Angst, sondern um Dummheit«, gibt er zurück.

»Gut. Dann rufst du jetzt Detective Browning oder sonst jemanden an. Denn anderenfalls wärst du dumm. Ich gehe jetzt zurück in mein Zimmer«, fügt sie hinzu, steht vom Sessel auf und schiebt ihn an seinem Platz am Fenster. »Wir treffen uns um acht in der Hotelhalle.«

34

Sie trinkt ein Glas Wein im Bett. Es ist kein sehr guter Wein, ein Cabernet mit einem scharfen Nachgeschmack. Doch sie leert das Glas bis zum letzten Tropfen, während sie allein in ihrem Hotelzimmer sitzt. In Aspen ist es zwei Stunden früher. Vielleicht ist Benton ja beim Essen, in einer Besprechung oder mit seinem Fall beschäftigt, seinem geheimen Fall, den er nicht mit ihr erörtern möchte.

Scarpetta klopft die Kissen hinter ihrem Rücken zurecht und stellt das leere Weinglas auf den Nachttisch neben das Telefon. Erst betrachtet sie den Apparat, dann den Fernseher, und sie fragt sich, ob sie ihn einschalten soll. Nachdem sie beschlossen hat, es nicht zu tun, greift sie zum Hörer und wählt Bentons Mobilnummer, weil er sie gebeten hat, ihn nicht zu Hause anzurufen. Das hat er ernst gemeint und sich unmissverständlich ausgedrückt. Ruf nicht zu Hause an, hat er gesagt. Ich gehe nicht an den Festnetzanschluss.

Das ergibt keinen Sinn, hat sie erwidert, und inzwischen scheinen seitdem Monate vergangen zu sein. Warum gehst du zu Hause nicht ans Telefon?

Ich möchte mich nicht ablenken lassen, hat er geantwortet. Also werde ich nicht rangehen. Wenn du mich erreichen möchtest, Kay, ruf mich mobil an. Bitte nimm es nicht persönlich. So ist es eben. Du kennst das ja.

Bentons Mobiltelefon läutet zweimal, dann nimmt er das Gespräch an.

»Was machst du gerade?«, fragt sie und starrt auf den dunklen Fernseher, der dem Bett gegenübersteht.

»Hallo«, sagt er, leise und ganz weit weg. »Ich bin im Arbeitszimmer.«

Scarpetta stellt sich das Zimmer im zweiten Stock des Hauses in Aspen vor, das er zum Arbeitszimmer umfunktioniert hat. Sie malt sich aus, wie er an seinem Schreibtisch sitzt, vor sich ein geöffnetes Dokument auf dem Computerbildschirm. Er hat einen Fall, und sie fühlt sich besser, seit sie weiß, dass er zu Hause ist und arbeitet.

»Der Tag war ziemlich anstrengend«, meint sie. »Und bei dir?«

»Erzähl mir, was los ist.«

Sie fängt an, ihm von Dr. Marcus zu berichten, hat aber keine Lust, auf Einzelheiten einzugehen. Dann möchte sie über Marino reden, aber die Wörter bleiben ihr im Halse stecken. Ihr Gehirn ist träge, und aus irgendeinem Grund zögert sie, sich Benton anzuvertrauen und ihm zu viel zu verraten.

»Warum sagst du mir nicht lieber, was heute bei dir los war?«, erwidert sie stattdessen. »Bist du Ski oder Snowboard gefahren?«

»Nein.«

»Schneit es?«

»Momentan ja«, antwortet er. »Und dort, wo du bist?«

»Wo ich bin?« Allmählich wird sie wütend. Es ist ihr gleichgültig, was er ihr vor einigen Tagen erklärt hat und was sie weiß. Sie fühlt sich trotzdem gekränkt und ärgert sich. »Drückst du dich so allgemein aus, weil du vergessen hast, wo ich bin? Ich bin in Richmond.«

»Natürlich. So habe ich es nicht gemeint.«

»Ist jemand bei dir? Bist du mitten in einer Besprechung oder so?«, erkundigt sie sich.

»Genau«, sagt er.

Er kann nicht frei reden, und sie bedauert, dass sie angerufen hat. Schließlich weiß sie, wie er ist, wenn er sich belauscht fühlt, und sie wünscht, sie hätte sich nicht bei ihm gemeldet. Dann stellt sie sich ihn in seinem Arbeitszimmer vor und fragt sich, was er gerade tut. Vielleicht hat er ja Angst, abgehört zu werden. Sie hätte nicht anrufen sollen. Möglicherweise ist er einfach nur geistesabwesend, aber ihr wäre es lieber, wenn er vorsichtig wäre, nicht zu beschäftigt, um sich mit ihr zu befassen. Sie hätte nicht anrufen sollen.

»Gut«, meint sie. »Entschuldige die Störung. Wir haben zwar seit zwei Tagen nicht miteinander gesprochen, aber ich habe Verständnis dafür, dass du jetzt keine Zeit hast, und außerdem bin ich müde.«

»Du hast angerufen, weil du müde bist?«

Er will sie auf den Arm nehmen und macht sich ein bisschen über sie lustig. Doch gleichzeitig wirkt er auch leicht gekränkt. Er möchte nicht glauben, dass sie ihn angerufen hat, weil sie müde ist, denkt sie und muss schmunzeln. »Du weißt ja, wie ich bin, wenn ich müde werde«, witzelt sie. »Dann habe ich mich nicht mehr im Griff.« Sie hört ein Geräusch im Hintergrund, vielleicht eine Stimme, eine Frauenstimme. »Ist da jemand?«, fragt sie wieder, und diesmal meint sie es ernst.

Eine lange Pause. Dann wieder die gedämpfte Stimme. Vielleicht hat er ja das Radio oder den Fernseher an. Im nächsten Moment herrscht Stille.

»Benton?«, sagt sie. »Bist du noch dran? Verdammt!«, murmelt sie. »Verdammt!« Sie legt auf.

35

Im Publix-Supermarkt an der Hollywood Plaza ist viel los. Edgar Allan Pogue schlendert mit seinen Einkaufstüten aus Plastik über den Parkplatz und sieht sich dabei nach allen Seiten nach Leuten um, denen er möglicherweise aufgefallen sein könnte. Aber da ist niemand. Und wenn da doch jemand wäre, würde es auch keine Rolle spielen, denn wie immer wird sich kein Mensch an ihn erinnern oder einen Gedanken an ihn verschwenden. Außerdem tut er doch nur das Richtige. Er erweist der Welt einen Gefallen, sagt er sich, als er am Rand der Lichtkegel der hohen Laternen auf dem Parkplatz weitergeht. Er hält sich im Schatten und schreitet rasch, aber nicht hastig aus.