Sein weißes Auto unterscheidet sich nicht von den etwa zwanzigtausend anderen weißen Autos in Südflorida und parkt in einer weit entfernten Ecke des Parkplatzes zwischen zwei weiteren weißen Autos. Eines davon, der Lincoln, der vorhin noch links von ihm stand, ist inzwischen weg. Doch das Schicksal hat bestimmt, dass wieder ein weißes Auto, diesmal ein Chrysler, seinen Platz eingenommen hat. In unverfälscht magischen Zeiten wie diesen weiß Pogue, dass er beobachtet und geleitet wird. Das Auge sieht zu. Er wird von dem Auge, der höheren Macht, dem Gott der Götter geführt, der oben auf dem Olymp sitzt. Er ist der bedeutendste aller Götter und gewaltiger und unermesslicher als jeder Filmstar oder sonst jemand, der sich für das Größte hält und glaubt, dass er selbst allmächtig ist. Wie sie. Wie der große Fisch.
Er öffnet sein Auto mit der Fernbedienung, klappt den Kofferraum auf und nimmt eine weitere Tüte heraus. Sie ist von All Season Pools, einem Laden für Schwimmbadzubehör. Dann sitzt er in der warmen Dunkelheit vorne im Wagen und überlegt, ob die Sichtverhältnisse für die Aufgabe genügen, die nun vor ihm liegt. Das Licht der Laternen auf dem Parkplatz erreicht kaum den Winkel, wo sein Wagen steht, und er wartet, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben. Dann schaltet er die Zündung ein, damit er Musik hören kann, und drückt auf einen Knopf seitlich an seinem Sitz, um diesen so weit wie möglich nach hinten zu schieben. Er braucht viel Platz zum Arbeiten. Sein Herz schlägt schneller, als er die Plastiktüte aufmacht und ein Paar dicke Gummihandschuhe, einen Karton groben Zucker, eine Flasche Billiglimo, Alufolie und Isolierband, einige große Markierstifte und ein Päckchen Pfefferminzkaugummi herausholt. Seit er um sechs Uhr abends seine Wohnung verlassen hat, hat er einen Geschmack nach abgestandenem Zigarrenrauch im Mund. Er kann jetzt nicht rauchen. Eine frische Zigarre würde zwar den muffigen, alten Tabakgeschmack vertreiben, aber das geht nicht.
Er wickelt einen Streifen Kaugummi aus, rollt ihn fest zusammen und steckt ihn in den Mund. Dasselbe wiederholt er mit zwei weiteren Streifen und zwingt sich zu warten, bevor er die Zähne in die drei Kaugummistreifen schlägt. Ein Schmerz schießt durch seine Speicheldrüsen wie Nadeln, die sich in seine Kiefer bohren. Dann fängt er an, mit heftigen und ausladenden Bewegungen zu kauen.
Kauend sitzt er in der Dunkelheit. Da ihm die Rapmusik bald auf die Nerven fällt, sucht er einen anderen Sender, der Classic Rock bringt. Anschließend öffnet er das Handschuhfach und entnimmt ihm einen Plastikbeutel. Schwarze Strähnen menschlichen Haars drücken sich gegen die durchsichtige Folie, als hätte er einen Skalp darin. Vorsichtig holt er die weiche Lockenperücke heraus, streichelt sie und betrachtet dabei seine alchemistischen Zutaten auf dem Beifahrersitz. Dann lässt er den Wagen an.
Die pastellfarbenen Gebäude der Innenstadt von Hollywood gleiten an ihm vorbei wie ein Traum, und die winzigen weißen Lämpchen in den Kronen der Palmen sind Galaxien, als er durch den Weltraum saust und die Energie der Gegenstände neben sich auf dem Sitz spürt. Am Hollywood Boulevard biegt er nach Osten ab und fährt ganz knapp unterhalb der Höchstgeschwindigkeit auf den Highway A1A zu. Am Ende der Straße erhebt sich, massiv, hellrosa und terrakottafarben, das Hollywood Beach Resort, auf der anderen Seite ist das Meer.
36
Der Morgen dämmert mandarinenfarben und rosig am rauchblauen Horizont über dem Meer, und die Sonne erinnert an ein zerbrochenes Ei, als Rudy Musil mit seinem olivgrünen Hummer in Lucys Auffahrt einbiegt und mit der Fernbedienung das elektrische Tor öffnet. Instinktiv blickt er sich um, schaut in sämtliche Richtungen und lauscht. Er weiß nicht, warum, aber er hat sich heute Morgen so beunruhigt gefühlt, dass er aus dem Bett gesprungen ist und beschlossen hat, bei Lucy nach dem Rechten zu sehen.
Langsam gleiten die schwarzen Stäbe des Metallgitters auseinander. Immer wieder erschaudern sie in ihrer Schiene, weil diese eine Krümmung hat und das Tor, obwohl es dieselbe Krümmung besitzt, offenbar eine gerade Schiene vorziehen würde. Einer der vielen Planungsfehler, denkt Rudy oft, wenn er Lucy in ihrer lachsfarbenen Villa besucht. Doch der größte Fehler von allen war, dieses verdammte Haus überhaupt zu kaufen, sagt er sich, und darin zu residieren wie eine stinkreiche Drogendealerin. Mit den Ferrari ist es eine andere Sache. Er hat Verständnis dafür, dass jemand die besten Autos und den besten Hubschrauber der Welt besitzen will. Er hat ja auch Spaß an seinem Hummer. Allerdings ist es ein himmelweiter Unterschied, ob man sich eine Rakete und einen Panzer oder einen riesigen und geschmacklosen Haufen Ballast anschafft.
Es fällt ihm auf, als er die Einfahrt entlangrollt. Doch er schaut kein zweites Mal hin und denkt sich erst etwas dabei, nachdem er durch das offene Tor gefahren und aus dem Hummer gestiegen ist. Als er umkehrt, um die Zeitung mitzunehmen, stellt er fest, dass der rote Signalwimpel am Briefkasten hochgeklappt ist. Lucy bekommt ihre Post nicht nach Hause, und außerdem ist sie gar nicht da, um den Signalwimpel hochzuklappen. Selbst wenn sie es wäre, würde sie das niemals tun. Alle Lieferungen und die abzuschickende Post werden im Ausbildungslager und im Büro, eine halbe Autostunde südlich von hier in Hollywood, abgewickelt.
Komisch, denkt er, als er zum Briefkasten zurückkehrt und daneben stehen bleibt. In der einen Hand hält er die Zeitung, mit der anderen streicht er sein sonnengebleichtes Haar glatt, weil es sich so früh am Morgen sträubt. Er hat weder geduscht noch sich rasiert, und er hätte es bitter nötig. Die ganze Nacht hat er sich schwitzend im Bett herumgewälzt und es einfach nicht geschafft, eine bequeme Liegeposition zu finden. Nachdenklich blickt er sich um. Kein Mensch ist auf der Straße. Niemand joggt oder führt seinen Hund aus. Eines ist ihm an diesem Viertel bereits aufgefallen: Die Leute leben zurückgezogen und haben offenbar keine Freude an ihren Luxusvillen oder den bescheideneren Behausungen. Nur selten sitzt jemand auf der Terrasse oder schwimmt im Pool, und die Leute, die Boote besitzen, fahren kaum damit. Eine seltsame Gegend, denkt er. Eine unfreundliche, merkwürdige, unsympathische Gegend. Es macht ihn wütend.
Ausgerechnet hierher musste sie ziehen, überlegt er weiter. Warum? Warum zum Teufel hierher? Wer sucht sich denn freiwillig Arschlöcher als Nachbarn? Du hast gegen alle deine Regeln verstoßen, Lucy. Wirklich gegen alle. Er reißt die Klappe des Briefkastens auf, späht hinein und macht sofort einen Satz zur Seite. Unwillkürlich weicht er drei Meter zurück, und seine Aufregung wächst, bevor ihm richtig klar wird, was er da gesehen hat.
»Scheiße!«, murmelt er. »Verdammte Scheiße!«
37
Der Verkehr in der Innenstadt ist so dicht wie immer. Scarpetta fährt, weil Marino noch in seiner Beweglichkeit eingeschränkt ist. Am meisten Schmerzen scheinen ihm die Verletzungen an den Stellen zu bereiten, die man besser nicht erwähnt. Er geht leicht o-beinig und hatte vorhin Schwierigkeiten beim Einsteigen in den Geländewagen. Scarpetta weiß, was sie gesehen hat, doch die zornige rötlich violette Färbung des empfindlichen Gewebes war nur ein stiller Schrei, verglichen mit dem brüllenden Schmerz, der jetzt dort toben muss. Marino wird in nächster Zeit ein wenig eingeschränkt sein.
»Wie geht es dir?«, fragt sie ihn wieder. »Ich verlasse mich darauf, dass du mir die Wahrheit sagst.« Damit meint sie, dass sie ihn nicht noch einmal dazu auffordern wird, sich auszuziehen. Sie wird ihn untersuchen, wenn er sie darum bittet, aber sie hofft, dass es nicht nötig werden wird. Außerdem wird er sie sowieso nicht fragen.