Rudy druckt den Artikel aus. Er sitzt auf seinem Stuhl, und die Finger ruhen locker auf der Tastatur, während er auf den Bildschirm starrt und überlegt, ob Lucy wohl von dem Artikel weiß. Warum hat sie nicht getobt, als sie davon erfahren hat? Warum hat sie Henri nicht schon vor Monaten gefeuert? Und warum hat sie ihm nichts davon erzählt? Ein solcher Verstoß gegen die Regeln ist eigentlich undenkbar. Es erschreckt ihn, dass Lucy so etwas zulassen konnte, vorausgesetzt, sie war darüber im Bilde. Seines Wissens ist es noch nie dazu gekommen, dass ein Mitarbeiter des Letzten Reviers ein Medieninterview gegeben oder auch nur aus dem Nähkästchen geplaudert hätte, außer es war Bestandteil einer ausgeklügelt geplanten Operation. Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden, denkt er und greift zum Telefon.
»Hallo«, sagt er, als Lucy sich meldet. »Wo bist du?«
»In St. Augustine. Beim Auftanken.« Ihr Tonfall ist ängstlich. »Ich habe schon von der Scheißbombe gehört.«
»Deshalb rufe ich nicht an. Vermutlich hast du mit deiner Tante geredet.«
»Marino hat sich bei mir gemeldet. Ich habe keine Zeit, darüber zu sprechen«, erwidert sie zornig. »Ist sonst noch was?«
»Wusstest du, dass deine Freundin ein Interview gegeben und erzählt hat, dass sie bei uns arbeitet?«
»Hier geht es nicht darum, dass sie meine Freundin ist.«
»Darüber streiten wir uns später«, entgegnet Rudy. Er gibt sich viel ruhiger, als er sich fühlt, denn innerlich kocht er. »Antworte mir. Wusstest du davon?«
»Ich weiß nichts von einem Artikel. Was für ein Artikel soll das denn sein?«
Rudy liest ihn ihr am Telefon vor. Nachdem er fertig ist, wartet er auf ihre Reaktion. Ihm ist klar, dass sie reagieren muss, und deshalb fühlt er sich ein bisschen besser. Als sie nicht antwortet, fragt er: »Bist du noch dran?«
»Ja«, gibt sie barsch zurück. »Ich hatte keine Ahnung.«
»Tja, nun weißt du’s, und wir müssen uns mit einem völlig anderen Sonnensystem auseinander setzen. Mit ihrer reichen Familie zum Beispiel, und was zum Teufel sonst noch dahintersteckt. Aber die wichtigste Frage ist, ob der Psycho diesen Artikel kennt und worum es hier überhaupt geht. Übrigens hat sie den Namen einer Kämpferin gegen die Sklaverei als Künstlernamen angenommen, und sie kommt aus Virginia. Du eigentlich auch. Vielleicht war euer Treffen ja doch nicht ganz zufällig.«
»Das ist ja albern. Jetzt geht die Phantasie mit dir durch«, protestiert Lucy zornig. »Sie stand auf der Liste der Polizisten aus Los Angeles, die schon einmal im Personenschutz …«
»Ach, Schwachsinn«, ruft Rudy aus, und inzwischen merkt man auch ihm die Wut an. »Scheiß auf die Liste. Du hast Vorstellungsgespräche mit verschiedenen Polizisten geführt, und sie ist einfach erschienen. Du wusstest genau, wie wenig Erfahrung sie im Personenschutz hatte, aber du hast sie trotzdem eingestellt.«
»Ich möchte darüber nicht am Telefon sprechen.«
»Ich auch nicht. Rede mit dem Seelenklempner.« Das ist der Spitzname für Benton Wesley. »Warum rufst du ihn nicht an? Das meine ich ernst. Vielleicht fällt ihm ja etwas ein. Sag ihm, ich maile ihm den Artikel. Wir haben Fingerabdrücke. Der Psycho, der die hübsche kleine Zeichnung gemacht hat, hat dir auch das Geschenk im Briefkasten hinterlassen.«
»Große Überraschung. Wie ich schon sagte, wären zwei von diesen Typen wirklich zu viel des Guten. Ich habe schon mit dem Seelenklempner gesprochen«, fährt sie fort. »Er wird mir am Funk soufflieren.«
»Gute Idee. Ach, das hätte ich fast vergessen: Ich habe an dem Isolierband, das an der Bombe war, ein Haar gefunden.«
»Beschreib es.«
»Etwa zwanzig Zentimeter lang, lockig, dunkel. Sieht eindeutig aus wie Kopfhaar. Mehr später. Ruf mich auf dem Festnetz an. Ich habe viel zu tun«, meint er. »Vielleicht weiß deine Freundin etwas, für den Fall, dass du es schaffst, sie dazu zu bringen, einmal im Leben die Wahrheit zu sagen.«
»Nenn sie nicht meine Freundin«, erwidert Lucy. »Lass uns nicht mehr darüber streiten.«
39
Kay Scarpetta betritt, gefolgt von Marino, der sein Bestes tut, um aufrecht zu gehen, die Gerichtsmedizin. Bruce an der Pforte richtet sich mit erschrockener Miene auf.
»Äh, ich habe neue Anweisungen«, beginnt er und weicht ihrem Blick aus. »Der Chef sagt, keine Besucher. Vielleicht sind ja nicht Sie damit gemeint. Erwartet er Sie vielleicht?«
»Nein, tut er nicht«, entgegnet Scarpetta lässig. Inzwischen wundert sie gar nichts mehr. »Und wahrscheinlich meint er ausschließlich mich.«
»Oh, das tut mir aber Leid.« Mit seinen hochroten Wangen sieht Bruce aus, als würde er gleich vor Scham im Erdboden versinken. »Wie geht’s denn so, Pete?«
Marino lehnt sich an den Tresen. Seine Beine sind gespreizt, und die Hose hängt ihm tiefer als gewöhnlich. Bei einer Verfolgungsjagd zu Fuß würde er sie vermutlich verlieren. »War schon mal besser«, erwidert er. »Also will der kleine Häuptling, der sich für den Größten hält, uns nicht reinlassen. Möchtest du das damit ausdrücken, Bruce?«
»Dieser Typ …«, beginnt Bruce und reißt sich dann zusammen. Wie die meisten Menschen hängt er an seinem Job. Er trägt eine hübsche Uniform in Preußischblau und eine Waffe und arbeitet in einem schönen Gebäude. Deshalb geht er lieber kein Risiko ein, auch wenn er Dr. Marcus nicht ausstehen kann.
»Hmm«, brummt Marino und tritt von der Theke zurück. »Ich enttäusche den kleinen Häuptling ja nur ungern, aber wir wollen sowieso nicht zu ihm. Wir müssen Beweisstücke im kriminaltechnischen Labor abgeben. Trotzdem würde mich interessieren, was für Anweisungen du genau gekriegt hast. Die Formulierung macht mich neugierig.«
»Dieser Typ …«, wiederholt Bruce und fängt an, den Kopf zu schütteln. Aber dann beherrscht er sich.
»Schon gut«, erwidert Scarpetta. »Botschaft erhalten. Danke, dass Sie mir Bescheid geben. Schön, dass das überhaupt jemand tut.«
»Er hätte es Ihnen selbst sagen müssen.« Erneut hält Bruce inne und blickt sich um. »Sie sollten wissen, dass sich alle anderen mächtig gefreut haben, Sie zu sehen, Dr. Scarpetta.«
»Wenigstens fast alle.« Sie schmunzelt. »Kein Problem. Könnten Sie Mr. Eise melden, dass wir da sind? Er erwartet uns nämlich«, fügt sie hinzu.
»Ja, Ma’am«, entgegnet Bruce, ein wenig vergnügter. Er greift zum Telefon, wählt eine Nummer und gibt die Nachricht weiter.
Ein oder zwei Minuten lang stehen Scarpetta und Marino wartend am Aufzug. Man kann hier den ganzen Tag lang vergeblich auf den Knopf drücken, wenn man keine Magnetkarte besitzt und einem niemand den Aufzug hinunterschickt. Die Türen gehen auf, und sie steigen ein. Scarpetta, die ihre schwarze Tatorttasche geschultert hat, betätigt den Knopf für den zweiten Stock.
»Offenbar hat der Schweinehund dich abserviert«, merkt Marino an, während sich der Aufzug mit einem leichten Ruck auf den kurzen Weg nach oben macht.
»Offensichtlich.«
»Und? Was wirst du dagegen unternehmen? Du kannst ihm das doch nicht durchgehen lassen. Erst fleht er dich an, nach Richmond zu kommen, und dann behandelt er dich wie den letzten Dreck. Ich würde dafür sorgen, dass er fliegt.«
»Das wird er früher oder später auch selbst hinkriegen. Ich habe Besseres zu tun«, erwidert sie, als sich die Türen aus Edelstahl öffnen und den Blick auf Junius Eise freigeben, der sie auf einem weißen Flur erwartet.