»Danke, Junius«, sagt Scarpetta und hält ihm die Hand hin. »Schön, Sie wiederzusehen.«
»Ach, ich tue Ihnen doch gern einen Gefallen«, erwidert Eise leicht verlegen.
Er ist ein merkwürdiger Mann mit farblosen Augen. Seine Oberlippe geht in der Mitte in eine dünne Narbe über, die bis zur Nase reicht, die typischen Spuren einer verpfuschten Operation, die Scarpetta schon oft bei Menschen mit Hasenscharte gesehen hat. Allerdings ist er nicht nur äußerlich seltsam, was Scarpetta schon vor Jahren fand, wenn sie ihm hin und wieder im Labor begegnet ist. Damals hat sie kaum ein Wort mit ihm gewechselt und ihn nur gelegentlich in einem Fall um Rat gefragt. Als Chefpathologin war sie immer höflich und darauf bedacht, den Mitarbeitern im Labor den Respekt zu erweisen, den sie ihrer Ansicht nach ehrlich verdienten. Jedoch war sie nie übermäßig freundlich. Während sie Eise durch das Labyrinth weißer Flure und großer Glasfenster folgt, durch die man den Wissenschaftlern in den Labors bei der Arbeit zusehen kann, wird ihr klar, dass sie damals kühl und einschüchternd gewirkt hat. Als Chefpathologin wurde sie zwar geachtet, aber nicht unbedingt geliebt. Das hat sie sehr belastet, doch sie hat damit gelebt, da ihre Position es eben mit sich brachte. Nun braucht sie es nicht mehr zu ertragen.
»Wie ist es Ihnen in der Zwischenzeit ergangen, Junius?«, fragt sie. »Ich habe gehört, dass Sie und Marino fast die Letzten im Polizeiclub waren. Hoffentlich macht Ihnen dieser seltsame Zwischenfall mit den Spuren nicht allzu sehr zu schaffen. Wenn es jemandem gelingt, das Rätsel zu lösen, dann Ihnen.«
Eise wirft ihr einen ungläubigen Blick zu. »Hoffentlich«, erwidert er verlegen. »Tja, ich bin ganz sicher, dass ich nichts verwechselt habe. Ganz gleich, was auch behauptet wird, ich weiß genau, dass ich es nicht war.«
»Sie wären auch der Letzte, dem so ein Fehler unterlaufen würde«, antwortet sie.
»Danke. Es bedeutet mir sehr viel, dass Sie das sagen.« Er nimmt die Magnetkarte, die an einer Kordel um seinen Hals hängt, und schwenkt sie vor einem Sensor an der Wand, bis das Schloss mit einem Klicken aufspringt. Dann öffnet er die Tür. »Es steht mir nicht an, Schlussfolgerungen zu ziehen«, fügt er hinzu, während sie das Labor betreten. »Aber ich weiß, dass ich die Probe nicht falsch beschriftet habe. So etwas ist mir noch nie passiert. Nicht ein einziges Mal.«
»Ich verstehe.«
»Erinnern Sie sich noch an Kit?«, fragt Eise, als ob Kit neben ihm stünde, aber sie ist nirgendwo zu sehen. »Sie ist nicht hier.
Hat sich krank gemeldet. Ich sage Ihnen, die halbe Welt hat die Grippe. Aber ich soll Ihnen Grüße von ihr ausrichten. Es wird ihr Leid tun, dass sie Sie verpasst hat.«
»Sagen Sie ihr, es täte mir auch Leid«, erwidert Scarpetta. Sie stehen vor einer langen schwarzen Theke in Eises Arbeitsbereich.
»Noch eine Frage«, meint Marino. »Gibt es hier ein ruhiges Plätzchen mit einem Telefon?«
»Na klar: das Büro der Abteilungsleiterin gleich um die Ecke. Sie ist heute bei Gericht. Fühlen Sie sich wie zu Hause. Ich weiß, sie hätte nichts dagegen.«
»Dann lasse ich euch jetzt in Ruhe im Matsch spielen«, verkündet Marino und schlendert davon. Er geht ein bisschen obeinig wie ein Cowboy, der gerade von einem langen, anstrengenden Ritt zurückkommt.
Eise bedeckt einen Teil des Tresens mit sauberem weißem Papier, während Scarpetta ihre schwarze Tasche öffnet und die Erdproben herausholt. Er zieht einen zweiten Stuhl heran, damit sie neben ihm am Mikroskop sitzen kann, und reicht ihr ein Paar Untersuchungshandschuhe. Der erste Schritt ist der einfachste. Eise nimmt einen winzigen Stahlspatel, taucht ihn in eine der Tüten, streicht ein winziges Bröckchen roten Ton und sandige Erde auf einen sauberen Objektträger und legt ihn auf den Objekttisch des Mikroskops. Dann späht er durch die Linse, stellt die Schärfe ein und bewegt den Objektträger langsam hin und her, während Scarpetta zusieht. Sie kann nichts erkennen als einen rötlichen Erdschmierer auf dem Glasplättchen. Nachdem er den Objektträger wieder entfernt und ihn auf einem weißen Papierhandtuch abgelegt hat, bereitet er auf dieselbe Weise weitere Proben vor.
Erst in der zweiten Tüte mit Erde, die Scarpetta an der Abrissstelle eingesammelt hat, wird Eise fündig.
»Wenn ich es nicht mit eigenen Augen sehen würde, würde ich es nicht glauben«, sagt er und blickt vom Mikroskop auf. »Schauen Sie selbst.« Er rollt seinen Stuhl zurück, um ihr Platz zu machen.
Scarpetta rückt näher ans Mikroskop heran und betrachtet durch die Linse eine winzige Geröllhalde aus Sand und anderen Mineralien, Stückchen von Pflanzen und Insekten und Tabakkrümeln – alles typisch für einen verschmutzten Parkplatz. Dann bemerkt sie einige Metallsplitter, die zum Teil matt silbrig schimmern. Das ist ziemlich ungewöhnlich. Als sie sich nach einem spitzen Werkzeug umsieht, entdeckt sie einige in ihrer Reichweite. Vorsichtig bewegt sie die Metallsplitter und trennt sie von der restlichen Probe. Auf diesem Objektträger befinden sich genau drei davon, alle ein klein wenig größer als die größten Bröckchen Silizium, Stein oder Schutt. Zwei sind rot, eines ist weiß. Als sie mit der Wolframnadel weiterstochert, fördert sie noch etwas zu Tage, das ihr Interesse weckt. Sie erkennt sofort, was es ist, spricht es aber nicht gleich aus, weil sie erst auf Nummer sicher gehen will.
Es ist etwa so groß wie der kleinste Farbsplitter, graugelb, merkwürdig geformt und weder mineralisch noch aus Kunststoff. Das Teilchen erinnert an einen prähistorischen Vogel mit einem hammerförmigen Kopf, einem Auge, einem mageren Hals und einem kugeligen Körper.
»Die flachen Platten der Lamellen. Sie sehen aus wie konzentrische Kreise und sind Knochenschichten, die angeordnet sind wie die Jahresringe eines Baumes«, erklärt sie und schiebt das Teilchen ein wenig herum. »Dazu die Rillen und Kanäle der Canaliculi. Das sind die Löcher, die wir hier sehen, also die Havers’schen Kanäle oder Canaliculi, wo winzige Blutgefäße verlaufen. Wenn Sie dieses Ding unter ein Mikroskop mit Polarisator legen, müssten Sie wellenförmige, fächrige Verlängerungen feststellen. Vermutlich wird es sich unter gebrochenen Röntgenstrahlen als Kalziumphosphat entpuppen. In anderen Worten als Knochenstaub. Angesichts des Fundorts überrascht mich das nicht weiter. In dem alten Gebäude gab es sicher Knochenstaub in rauen Mengen.«
»Du heiliger Strohsack!«, ruft Eise beglückt aus. »Und ich habe mich deswegen verrückt gemacht. So ein Ding habe ich auch bei dem kranken Mädchen, also im Fall Paulsson, gefunden, wenn wir dasselbe meinen. Darf ich mal schauen?«
Sie rollt ihren Stuhl zurück und ist erleichtert, allerdings ebenso verdattert wie zuvor. »Lacksplitter und Knochenstaub mögen im Fall des Traktorfahrers Sinn ergeben, jedoch nicht bei Gilly Paulsson. Wie kann es sein, dass in ihrer Mundhöhle die identischen Spuren sichergestellt wurden?«
»Es ist dasselbe gottverdammte Zeug«, verkündet Eise mit dem Brustton der Überzeugung. »Ich zeige Ihnen die Proben vom toten Mädchen. Sie werden Ihren Augen nicht trauen.« Er nimmt einen dicken Umschlag von einem Stapel an seinem Schreibtisch, löst das Klebeband an der Lasche und nimmt einen Pappordner mit Dias heraus. »Ich habe sie immer in Griffweite, weil ich sie mir immer wieder angeschaut habe. Das können Sie mir glauben.« Er legt ein Dia unter das Mikroskop. »Rote, weiße und blaue Partikel, einige an Metallsplittern anhaftend, andere nicht.« Er schiebt das Dia herum und stellt die Schärfe ein. »Die Farbe ist in einer Schicht aufgetragen. Es handelt sich um einen harzhaltigen Lack, der allerdings nicht rein ist. Das heißt, dass der fragliche Gegenstand vermutlich ursprünglich nur weiß war und irgendwann rot, weiß und blau überlackiert wurde. Schauen Sie.«
Eise hat alle Partikel im Fall Paulsson sorgfältig isoliert, sodass sich nur rote, weiße und blaue Farbsplitter auf dem Objektträger befinden. Sie sehen so groß und bunt aus wie Bauklötzchen, sind jedoch unregelmäßig geformt. Einige haften an matt schimmerndem silbrigem Metall, andere scheinen nur aus Lack zu bestehen. In Farbe und Beschaffenheit sind sie offenbar mit denen identisch, die Scarpetta gerade in ihrer Erdprobe entdeckt hat. Scarpetta versteht die Welt nicht mehr und hat das Gefühl, dass ihr Verstand streikt. Sie kann nicht mehr klar denken, und ihr Gehirn wird immer langsamer, wie ein Computer, dem allmählich der Speicherplatz ausgeht. Sie kommt einfach nicht hinter die logischen Zusammenhänge.