»Und hier sind die Partikel, die Sie als Knochenstaub bezeichnen.« Er vertauscht die Probe mit einer anderen.
»Das stammt tatsächlich von den Proben, die von Gillys Leiche genommen wurden?« Sie muss sich noch einmal vergewissern, so unglaublich ist es.
»Keine Frage. Daran ist nicht zu rütteln.«
»Derselbe Staub.«
»Überlegen Sie nur, wie viel von diesem Zeug am alten Gebäude herumliegen muss. Mehr Staub, als es Sterne im Weltall gibt, wenn Sie erst mal anfangen, den ganzen Dreck da zusammenzukratzen«, meint Eise.
»Einige dieser Partikel scheinen alt zu sein, das Ergebnis natürlichen Abblätterns oder von Abschilferung, wenn sich die Knochenhaut zersetzt«, erklärt Scarpetta. »Sehen Sie, wie abgerundet und allmählich zulaufend die Ränder sind? Mit derartigem Staub rechne ich bei skelettierten Überresten, das heißt bei vergrabenen oder im Wald gefundenen Knochen. Aus nicht-traumatisierten Knochen wird auch nicht-traumatisierter Staub. Aber einige davon«, sie isoliert ein Knochenstaubpartikel, das schartig, gebrochen und einige Farbtöne heller ist, »wirken auf mich, als wären sie zerschmettert worden.«
Er beugt sich vor, um sich zu vergewissern, und macht ihr dann Platz, damit sie durch die Linse spähen kann.
»Ich glaube, dass dieses Teilchen hier verbrannt wurde. Haben Sie bemerkt, wie dünn es ist? Ich sehe einen kleinen geschwärzten Rand, der einen verkohlten und angesengten Eindruck macht. Ich wette, dass das Teilchen am Hautfett meines Fingers kleben bleiben würde, wenn ich darauf drücke, was bei normalem Knochenstaub nicht der Fall wäre«, fährt sie fasziniert fort. »Ich denke, bei einem Teil dieser Partikel handelt es sich um Überreste von eingeäscherten menschlichen Leichen.« Sie betrachtet das bläulich weiße, schartige Partikel mit den verkohlten Rändern im hellen Lichtkegel. »Es sieht kalkig und abgebrochen aus, aber nicht notwendigerweise durch Hitze. Ich weiß nicht. Bis jetzt hatte ich nie Grund, mich mit Knochenstaub zu befassen, insbesondere mit verbranntem. Eine Elementaranalyse wird Ihnen mehr sagen. Bei verbrannten Knochen müssten Sie verschiedene Kalziumanteile und einen höheren Phosphoranteil feststellen«, spricht sie weiter, ohne den Blick von den binokularen Linsen des Mikroskops abzuwenden. »Ach, übrigens ist im Schutt des alten Gebäudes mit Krematoriumsstaub zu rechnen, weil es dort einen Verbrennungsofen gab. Der Himmel weiß, wie viele Leichen dort im Laufe der Jahrzehnte eingeäschert wurden. Allerdings erstaunt es mich ein wenig, dass die Erde, die ich Ihnen mitgebracht habe, Knochenstaub enthält. Ich habe diese Erde auf dem Asphalt an der Hintertür sichergestellt. Der hintere Teil des Gebäudes ist noch nicht abgerissen worden, und auch der Parkplatz dort wurde noch nicht umgegraben. Eigentlich müsste die Anatomieabteilung noch stehen. Erinnern Sie sich an die Hintertür des alten Gebäudes?«
»Na klar.«
»Daher stammt er. Wie kann Staub aus dem Krematorium nach oben auf den Parkplatz geraten, wenn er nicht aus dem Gebäude dorthin verschleppt wurde?«
»Meinen Sie, jemand ist unten in der Anatomie gewesen und hat den Staub an den Schuhen auf den Parkplatz getragen?«
»Keine Ahnung, durchaus möglich. Und offenbar hat Mr. Whitbys blutiges Gesicht den schmutzigen Asphalt berührt, sodass die Spuren in der Wunde und in seinem Blut haften geblieben sind.«
»Das mit dem zerbrochenen Knochenstaub müssen Sie mir noch einmal erklären«, meint Eise verwirrt. »Wodurch können verbrannte Knochen brechen, wenn nicht durch die Hitze?«
»Wie ich schon sagte, weiß ich das nicht genau. Aber es ist möglich, dass Staub aus dem Krematorium sich mit der Erde auf dem Asphalt vermischt hat und dann von einem Traktor oder einem Auto überrollt oder sogar von Menschen zertreten wurde. Allerdings habe ich keine Ahnung, ob Knochenstaub, der einer solchen Behandlung ausgesetzt wird, genauso aussieht wie nach Gewalteinwirkung.«
»Und wie zum Teufel kommt der verbrannte Knochenstaub an die Leiche des kranken Mädchens?«, fragt Eise.
»Richtig.« Sie versucht, einen klaren Kopf zu bekommen und ihre Gedanken zu ordnen. »Stimmt. Das sind ja keine Proben vom Fall Whitby. Der verbrannte und gebrochen aussehende Staub wurde ja gar nicht bei ihm, sondern bei Gilly Paulsson entdeckt.«
»Staub aus dem Krematorium im Mund des kranken Mädchens? Heilige Muttergottes, das kann ich mir einfach nicht erklären. Sie vielleicht?«
»Keine Ahnung, warum wir in ihrem Fall überhaupt mit Knochenstaub zu tun haben«, erwidert Scarpetta. »Was haben Sie sonst noch gefunden? Soweit ich informiert bin, wurde eine Reihe von Gegenständen aus Gilly Paulssons Elternhaus hier abgegeben.«
»Nur ihr Bettzeug. Kit und ich haben zehn Stunden im Schaberaum verbracht. Und dann musste ich eine halbe Ewigkeit lang Baumwollfasern herauspicken, weil Dr. Marcus eine Schwäche für Wattestäbchen hat. Vermutlich besitzt er Q-Tips-Aktien«, beschwert sich Eise. »Die DNS-Leute haben natürlich auch einen Blick auf die Bettwäsche geworfen.«
»Das weiß ich«, meint Scarpetta. »Sie haben Schleimhautepithelzellen gefunden.«
»Außerdem haben wir auf den Laken schwarz gefärbte Haare sichergestellt. Die haben Kit ziemliches Kopfzerbrechen bereitet.«
»Menschlich, wie ich annehme. DNS?«
»Ja, menschlich. Sie wurden zur Mitochondrienanalyse ins Bode-Labor geschickt.«
»Was ist mit Tierhaaren? Von einem Hund zum Beispiel?«
»Nein«, antwortet er.
»Weder in ihren Laken noch auf ihrem Pyjama oder auf sonst etwas, das aus dem Haus stammt?«
»Nein. Was ist mit Staub von der Autopsiesäge?«, fragt er, denn der Knochenstaub lässt ihm einfach keine Ruhe. »Der könnte auch aus dem alten Gebäude sein.«
»Der sieht ganz anders aus.« Sie lehnt sich zurück und blickt ihn an. »Staub von einer Säge würde aus feinen Körnchen, vermischt mit Bröckchen, bestehen. Vielleicht wären auch noch feine Metallspäne vom Sägeblatt selbst dabei.«
»Gut. Ich würde gern über etwas sprechen, das mir im Kopf herumgeht, bevor mir der Schädel platzt.«
»Nur zu.«
»Vielen Dank. Zugegeben, Sie sind die Knochenspezialistin.« Er legt die Dias zurück in Gilly Paulssons Akte. »Aber mit Lacken kenne ich mich aus. Sowohl beim toten Mädchen als auch beim Traktorfahrer war die Spur einer Schutzschicht oder eines Poliermittels vorhanden. Also wissen wir, dass es kein Autolack sein kann. Außerdem sind die darunter liegenden Metallpartikel nicht magnetisch, was heißt, dass sie nicht aus Eisen bestehen. Das habe ich gleich am ersten Tag ausprobiert. Wir haben es hier mit Aluminium zu tun.«
»Ein Gegenstand aus Aluminium, der rot, weiß und blau lackiert ist«, denkt Scarpetta laut. »Gemischt mit Knochenstaub.«
»Ich gebe mich geschlagen«, sagt Eise.
»Ich mich im Augenblick auch«, erwidert sie.
»Menschlicher Knochenstaub?«
»Wenn er nicht frisch ist, werden wir es nie erfahren.«
»Wie frisch ist frisch?«
»Einige Jahre im Gegensatz zu Jahrzehnten«, antwortet sie. »Wir können Fingerabdrücke nehmen und Struktur und Mitochondrien untersuchen, also ist es nicht zu anspruchsvoll, vorausgesetzt, die Probe ist nicht zu alt oder in zu schlechtem Zustand. Bei der DNS geht es um Qualität versus Quantität, aber wenn ich eine Wette abschließen müsste, würde ich sagen, dass wir vermutlich kein Glück haben werden. Erstens kann man bei Krematoriumsresten die DNS sowieso vergessen. Was den nicht verbrannten Knochenstaub angeht, kommt er mir alt vor, ich weiß nicht, warum. Natürlich können Sie einen Teil des unverbrannten Staubs in die Bode-Labors zum Mitochondrientest schicken oder eine Strukturanalyse veranlassen. Aber dabei würde eine winzige Probe wie diese verbraucht werden. Wollen wir das riskieren, in dem Wissen, dass wahrscheinlich nichts dabei herauskommen wird?«