»DNS ist nicht meine Abteilung. Ansonsten wäre mein Budget um einiges größer.«
»Tja, die Entscheidung liegt ohnehin nicht bei mir«, meint sie und steht auf. »Anderenfalls würde ich wahrscheinlich dafür stimmen, die Beweisstücke aufzubewahren, nur für den Fall, dass sie später noch einmal gebraucht werden. Das Interessante ist doch, dass der Knochenstaub in zwei Fällen aufgetreten ist, die eigentlich nicht das Geringste miteinander zu tun haben.«
»Eindeutig.«
»Ich überlasse es Ihnen, Dr. Marcus die frohe Botschaft zu überbringen«, sagt sie.
»Er liebt meine E-Mails. Ich schicke ihm gleich wieder eine«, antwortet Eise. »Schade, dass ich keine bessere Nachricht für Sie habe, Dr. Scarpetta. Aber diese Tüten mit Erde werden mich einige Zeit, wenn nicht gar mehrere Tage, auf Trab halten. Ich verteile alles auf Objektträger, lasse es gut trocknen und siebe es dann durch, um die Partikel zu isolieren. Das ist ziemlich lästig, weil man mit den verdammten Sieben alle zwei Minuten auf den Tresen klopfen muss, damit der Inhalt in den Auffangbehälter rieselt. Ich habe es aufgegeben, um einen Teilchentrenner mit automatischer Schüttelvorrichtung zu betteln, weil diese Dinger bis zu sechs Riesen kosten. Also kann ich es vergessen. Das Trocknen und das Sieben wird ein paar Tage dauern, und dann sitze ich hier allein vor meinem Mikroskop. Ich kann es auch noch mit dem Elektronenmikroskop versuchen. Habe ich Ihnen übrigens schon eines meiner selbst gemachten Werkzeuge gegeben? Sie werden hier Eise-Nadeln genannt.«
Er entdeckt einige auf seinem Schreibtisch, wählt eines aus und dreht es langsam in der Hand, um sich zu vergewissern, dass das Wolfram nicht verbogen ist und auch nicht geschärft werden muss. Stolz hält er das Instrument hoch und reicht es ihr mit einer eleganten Geste, als würde er ihr eine langstielige Rose verehren.
»Das ist aber sehr nett von Ihnen, Junius«, sagt sie. »Vielen Dank. Nein, Sie haben mir noch nie eines geschenkt.«
40
Da es Scarpetta einfach nicht gelingen will, das Problem aus einem Blickwinkel anzugehen, der Klarheit schafft, hört sie auf, über das lackierte Aluminium und den Knochenstaub nachzugrübeln. Sie befürchtet, vor Erschöpfung zusammenzubrechen, wenn sie weiter an rote, weiße und blaue Farbsplitter und kaum wahrzunehmende Partikel vermutlich menschlicher Knochen denkt.
Es ist früher Nachmittag. Das Wetter ist grau und die Luft so schwer, dass sie in sich zusammenzusacken droht wie eine vom Regen durchweichte Zimmerdecke. Als Scarpetta und Marino aus dem Geländewagen steigen und die Türen zufallen lassen, klingt das Geräusch gedämpft. Ihre Hoffnung schwindet, als sie kein Licht in dem Backsteinhaus mit dem mit Moos bewachsenen Dach sieht, das jenseits des Gartenzauns der Paulssons steht.
»Bist du sicher, dass er kommen wollte?«, fragt Scarpetta.
»Er hat es jedenfalls versprochen. Außerdem weiß ich, wo der Schlüssel liegt. Er hat es mir gesagt, also ist es offenbar kein Staatsgeheimnis.«
»Wir werden nicht in dieses Haus einbrechen, falls du das damit meinst«, protestiert sie und betrachtet den geborstenen Gartenweg, der zu der Sturmtür aus Aluminium und der Holztür dahinter führt. Die Fenster auf beiden Seiten sind dunkel. Das Haus ist klein und alt und wirkt auf traurige Weise vernachlässigt. Es wird von vorwitzigen Magnolien, jahrelang nicht mehr gestutzten Dornenbüschen und Nadelbäumen bedrängt, die so hoch und dicht sind, dass ihre Nadeln und Zapfen in Schichten die Rinnsteine verstopfen und die kläglichen Überreste des Rasens unter sich ersticken.
»Ich habe gar nichts gemeint«, entgegnet Marino und blickt die ruhige Straße entlang. »Ich wollte dir nur mitteilen, dass er mir gesagt hat, wo der Schlüssel ist, und auch, dass das Haus keine Alarmanlage hat. Warum, glaubst du, könnte er mir das wohl verraten haben?«
»Das spielt keine Rolle«, gibt sie zurück, obwohl sie weiß, dass es das sehr wohl tut, denn sie ahnt bereits, was sie erwartet.
Dem Makler ist es offenbar zu lästig, persönlich zu erscheinen. Vielleicht hat er dieses Objekt ja schon innerlich abgeschrieben. Und deshalb hat er es ihnen mehr oder weniger freigestellt, sich selbst im Haus umzusehen. Scarpetta steckt die Hände in die Manteltaschen. Die Tatorttasche hat sie über der Schulter hängen. Ohne die Tüten mit Erde, die inzwischen in der Kriminaltechnik getrocknet werden, ist sie erheblich leichter.
»Ich werfe wenigstens mal einen Blick durch die Fenster.« Marino setzt sich, den Gartenweg entlang, in Bewegung. Er geht langsam und passt auf, wo er hintritt. »Kommst du mit, oder bleibst du am Auto?«, fragt er, ohne sich umzudrehen.
Am Anfang ihrer Suche nach Informationen, von denen sie inzwischen einige wenige besitzen, stand ein Blick ins örtliche Telefonbuch. Dort hat Marino den Immobilienmakler gefunden, der das Haus offenbar seit über einem Jahr keinem Interessenten mehr gezeigt hat und dem dieser Umstand herzlich gleichgültig zu sein scheint. Besitzerin ist eine Frau namens Bernice Towle. Sie lebt in South Carolina und weigert sich, auch nur einen Penny in die Instandsetzung des Hauses zu investieren oder mit dem Preis weit genug herunterzugehen, sodass ein Verkauf in den Bereich des Möglichen rückt. Laut Makler wird das Gebäude nur benutzt, wenn Mrs. Towle es ihren Gästen überlässt, und niemand weiß, wie oft – oder ob überhaupt – das vorkommt. Die Polizei von Richmond hat sich nicht um das Haus oder seine Vorgeschichte gekümmert, weil es unbewohnt und deshalb im Fall Gilly Paulsson angeblich nicht relevant ist. Aus demselben Grund hatte auch das FBI kein Interesse am verfallenen Gebäude von Mrs. Towle. Marino und Scarpetta hingegen sind sehr neugierig darauf, denn in einem Mordfall ist alles von Bedeutung.
Scarpetta schlendert auf das Haus zu. Der Beton unter ihren Füßen ist nach dem Regen mit einer glitschigen grünen Schleimschicht bedeckt. Wenn es ihr eigener Gartenweg wäre, würde sie ihn mit Bleiche schrubben, denkt sie, während sie Marino folgt. Er steht auf der kleinen, eingesackten Veranda und hält sich die Hände seitlich an die Augen, um durch ein Fenster zu spähen.
»Wenn wir hier schon herumschnüffeln, können wir uns genauso gut gleich strafbar machen«, sagt sie. »Wo also ist der Schlüssel?«
»Siehst du den Blumentopf da unter dem Busch?« Er weist mit dem Kopf auf einen riesigen ungepflegten Buchsbaum, unter dem, kaum sichtbar, ein schlammiger Blumentopf steht. »Der Schlüssel ist da drunter.«
Sie tritt von der Veranda, steckt die Hände zwischen die Zweige und stellt fest, dass der Blumentopf mit grünem, nach Morast stinkendem Regenwasser gefüllt ist. Als sie ihn beiseite rückt, entdeckt sie ein flaches, quadratisches, mit Schmutz und Spinnweben bedecktes Päckchen aus Alufolie. In der Alufolie befindet sich ein Kupferschlüssel, der angelaufen ist wie ein alter Penny. Diesen Schlüssel hat seit langer Zeit niemand mehr angefasst, mindestens seit ein paar Monaten, wenn nicht sogar länger, sagt sie sich. Sie kehrt zur Veranda zurück und reicht den Schlüssel Marino, weil sie nicht diejenige sein will, die das Haus aufschließt.
Die Tür öffnet sich quietschend, und ein muffiger Gestank schlägt ihnen entgegen. Drinnen ist es kalt, und Scarpetta glaubt, alten Zigarrenrauch zu riechen. Marino tastet nach dem Lichtschalter, doch als er ihn findet und betätigt, geschieht nichts.
»Hier.« Scarpetta gibt ihm ein Paar Baumwollhandschuhe. »Ich habe zufällig welche in deiner Größe dabei.«
»Hmm.« Er zwängt seine riesigen Hände hinein, während sie auch welche anzieht.
Auf einem Tisch an der Wand steht eine Lampe, die Scarpetta anknipst. »Wenigstens haben wir Strom«, meint sie. »Ich frage mich, ob das Telefon auch angeschlossen ist.« Sie hebt den Hörer eines alten schwarzen Wählscheibentelefons ab, hält ihn ans Ohr und hört nichts. »Es funktioniert nicht«, stellt sie fest. »Riechst du auch den abgestandenen Zigarrenrauch?«