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»Tja, den Strom kann man nicht abschalten, sonst frieren die Wasserleitungen ein«, sagt Marino, schnuppert und blickt sich im Wohnzimmer um, das durch seine Anwesenheit winzig wirkt. »Ich rieche keine Zigarren, nur Staub und Moder. Aber du hattest schon immer eine bessere Nase als ich.«

Scarpetta steht im Lichtkegel der Lampe und blickt durch das kleine, dämmrige Zimmer zu der geblümten Couch unter den Fenstern und dem blauen Queen-Anne-Sessel, der in einer Ecke steht. Auf dem Couchtisch aus dunklem Holz liegen einige Zeitschriftenstapel. Sie geht hinüber, um sich die Magazine anzusehen. »Das hätte ich jetzt nicht erwartet!«, ruft sie und betrachtet eine Ausgabe von Variety.

»Was?« Marino kommt näher und starrt auf die Wochenzeitschrift in Schwarz-Weiß.

»Eine Fachzeitschrift für die Unterhaltungsindustrie«, sagt Scarpetta. »Seltsam. Vom November letzten Jahres«, liest sie das Erscheinungsdatum ab. »Wirklich eigenartig. Ich frage mich, ob Mrs. Towles, wer immer sie auch sein mag, Verbindungen zur Filmbranche hat.«

»Vielleicht ist sie ja auch nur promiverrückt wie die Hälfte der Menschheit.« Marino misst dem keine große Bedeutung bei.

»Aber diese Hälfte der Menschheit liest People, Entertainment Weekly oder ähnliche Blätter. Nicht Variety«, erwidert sie und greift nach weiteren Zeitschriften. »Hollywood Reporter, Variety, Variety, Hollywood Reporter, Ausgaben aus den letzten zwei Jahren. Die letzten sechs Monate fehlen. Vielleicht sind die Abonnements ausgelaufen. Der Adressaufkleber lautet auf Mrs. Edith Arnette, diese Adresse. Sagt dir dieser Name etwas?«

»Nein.«

»Hat der Immobilienmakler erwähnt, wer früher hier gewohnt hat? War es Mrs. Towle selbst?«

»Hat er nicht. Ich hatte nur den Eindruck, dass es Mrs. Towle war.«

»Wir sollten uns nicht auf unsere Eindrücke verlassen. Was hältst du davon, ihn anzurufen?« Sie öffnet ihre schwarze Tatorttasche, holt einen dicken Müllsack heraus, schüttelt ihn lautstark und packt die Ausgaben von Variety und Hollywood Reporter hinein.

»Nimmst du die etwa mit?« Marino steht in der Tür und hat ihr den Rücken zugekehrt. »Warum?«

»Kann nicht schaden, sie auf Fingerabdrücke zu untersuchen.«

»Diebstahl«, erwidert er, entfaltet einen Zettel und liest die Nummer ab.

»Hausfriedensbruch, Einbruch. Warum dann nicht auch Diebstahl?«, entgegnet sie.

»Falls sich die Sachen als wichtige Beweismittel entpuppen, können wir keinen Durchsuchungsbefehl vorweisen.« Offenbar will er sie ärgern.

»Soll ich sie zurücklegen?«, fragt sie.

Marino, immer noch in der Tür, zuckt die Achseln. »Wenn wir was finden, weiß ich ja, wo der Schlüssel ist. Ich schmuggle sie wieder ins Haus, und dann besorgen wir uns den Durchsuchungsbefehl eben nachträglich. Das hab ich auch schon früher so gemacht.«

»Das würde ich aber nicht öffentlich wiederholen«, meint sie, lässt die Tüte mit den Zeitschriften auf dem staubigen Dielenboden stehen und geht zu einem kleinen Tisch links von der Couch. Wieder glaubt sie Zigarrenrauch zu riechen.

»Es gibt vieles, was ich öffentlich nicht wiederholen sollte«, antwortet er und tippt eine Nummer in sein Mobiltelefon ein.

»Außerdem ist das hier nicht dein Zuständigkeitsbereich. Du würdest gar keinen Durchsuchungsbefehl kriegen.«

»Keine Sorge. Browning und ich sind dicke Kumpel.« Er starrt ins Leere und wartet, und sie erkennt an seinem Tonfall, dass die Mailbox dran ist, als er beginnt: »Hey, Jim. Marino hier. Mich würde nur interessieren, wer zuletzt hier gewohnt hat. Sagt Ihnen der Name Edith Arnette etwas? Bitte rufen Sie mich so schnell wie möglich zurück.« Er hinterlässt seine Nummer. »Hmm«, meint er dann zu Scarpetta. »Der gute alte Jim hatte keine Lust, sich hier mit uns zu treffen. Kann man ihm nicht zum Vorwurf machen. Was für eine Bruchbude!«

»Da hast du Recht«, erwidert Scarpetta und zieht die Schublade des Tischchens links vom Sofa auf. Sie ist voller Münzen. »Aber ich bin nicht sicher, ob er aus diesem Grund nicht gekommen ist … Also sind du und Detective Browning dicke Kumpel. Letztens hattest du doch noch Angst, er könnte dich festnehmen.«

»Das war letztens.« Marino tritt in den dunklen Flur. »Er ist in Ordnung. Keine Sorge – wenn ich einen Durchsuchungsbefehl brauche, kriege ich einen. Viel Spaß bei der Hollywood-Lektüre. Wo sind denn hier die Lichtschalter, verdammt?«

»Das müssen fünfzig Dollar in Fünfundzwanzig-Cent-Münzen sein.« Die Münzen klimpern, als Scarpetta darin herumwühlt. »Nur Vierteldollars, keine Pennys und keine Fünf- oder Zehn-Cent-Stücke. Wozu braucht man hier Vierteldollars? Für den Zeitungsautomaten?«

»Der Times-Dispatch, dieses Schmierblatt, kostet fünfzig Cent. Als ich mir gestern einen aus dem Automaten vor dem Hotel geholt habe, musste ich zwei Vierteldollars einwerfen, doppelt so viel wie für die Washington Post

»Es ist ungewöhnlich, Geld in einem unbewohnten Haus aufzubewahren«, stellt Scarpetta fest und schließt die Schublade.

Durch den dunklen Flur folgt sie Marino in die Küche, wo ihr sofort auffällt, dass sich das schmutzige Geschirr in der Spüle türmt. Das Spülwasser ist ekelhaft; geronnenes Fett und Schimmel schwimmen darin. Als sie den Kühlschrank öffnet, wächst ihre Gewissheit, dass jemand in diesem Haus gewohnt hat, und zwar vor nicht allzu langer Zeit. Die Regale sind voller Orangensaft- und Sojamilchpackungen mit Verfallsdaten gegen Ende dieses Monats. Die Daten auf den Fleischpäckchen im Gefrierfach weisen darauf hin, dass sie vor etwa drei Wochen gekauft wurden. Je mehr Lebensmittel sie in den Schränken und in der Speisekammer entdeckt, desto größer wird ihre Anspannung, und ihre Intuition ist schneller als ihr Verstand. Als sie durch den Flur zum Schlafzimmer im hinteren Teil des Hauses geht und wieder Zigarren riecht, ist sie ihrer Sache sicher, und das Herz klopft ihr bis zum Halse.

Auf dem Doppelbett liegt eine billige dunkelblaue Überdecke. Als sie diese zurückschlägt, ist die Bettwäsche darunter zerknittert und schmutzig und mit kurzen Haaren bedeckt, von denen einige rot und vermutlich Kopfhaare sind. Bei den anderen dunkleren lockigeren handelt es sich wahrscheinlich um Schamhaare. Sie bemerkt steif angetrocknete Flecken und weiß genau, was sie vor sich hat. Vom Bett hat man Blick auf ein Fenster, durch das sie über den Holzzaun sehen kann. Sie erkennt das dunkle Fenster, das einmal Gillys war. Auf dem Tisch am Bett befindet sich ein schwarzgelber Cohiba-Aschenbecher aus Keramik, der verhältnismäßig sauber ist. Auf den Möbeln ist mehr Staub als in diesem Aschenbecher.

Scarpetta macht sich an die Arbeit und bemerkt kaum, wie die Zeit vergeht, die Schatten sich verändern und der Regen aufs Dach prasselt. Sie durchsucht den Wandschrank und sämtliche Kommodenschubladen im Raum und findet eine welke Rose, noch in Plastikfolie gewickelt. Herrenmäntel, -jacken und -anzüge, alle altmodisch, streng und hochgeschlossen, hängen ordentlich aufgereiht auf Kleiderbügeln aus Draht. Dazu stapelweise akkurat gefaltete Herrenhosen und hemden in gedeckten Farben, Herrenunterwäsche und Socken, alles alt und billig, und Dutzende schäbiger weißer Taschentücher, zu formvollendeten Vierecken zusammengelegt.

Dann setzt sie sich auf den Boden und zieht Pappkartons unter dem Bett hervor. Sie macht sie auf und blättert stapelweise alte Fachzeitschriften für die Bestattungsbranche durch. Es sind verschiedene Monatszeitschriften mit Abbildungen von Särgen, Leichenwäsche, Urnen und Gerätschaften zum Einbalsamieren. Die Zeitschriften sind mindestens acht Jahre alt. Der Adressaufkleber wurde bei allen, die sie bis jetzt in den Händen hatte, abgelöst, sodass nur ein paar Buchstaben hier und der Teil einer Postleitzahl da sichtbar sind, was im Moment nicht genügt, um ihre Fragen zu beantworten.

In der Hoffnung auf einen vollständigen Adressaufkleber durchsucht sie einen Karton nach dem anderen und betrachtet jede Zeitschrift. Schließlich entdeckt sie ein paar Exemplare ganz unten in einem Karton. Nachdem sie den Aufkleber gelesen hat, bleibt sie auf dem Boden sitzen, starrt auf die Zeitschriften und fragt sich, ob sie nicht mehr ganz richtig im Kopf ist oder ob es eine logische Erklärung dafür gibt. Dann ruft sie laut nach Marino. Sie schreit seinen Namen, während sie aufspringt und auf eine Zeitschrift blickt, deren Titelbild einen Sarg in Form eines Rennwagens zeigt.