»Marino! Wo bist du?« Sie tritt auf den Flur, sieht sich um und lauscht. Ihr Atem geht stoßweise, und das Herz klopft ihr bis zum Hals. »Verdammt!«, murmelt sie und eilt den Flur entlang. »Wo zum Teufel steckst du, Marino?«
Er steht auf der Veranda und telefoniert. Als ihre Blicke sich treffen, erkennt sie, dass auch er neue Informationen hat. Sie hält ihm die Zeitschrift dicht unter die Nase. »Ja, wir sind da«, sagt er ins Telefon. »Ich habe das Gefühl, dass wir die ganze Nacht hier verbringen werden.«
Er beendet das Gespräch. In seinen Augen malt sich der undurchdringliche Ausdruck, den sie schon früher bei ihm gesehen hat, wenn er seine Beute wittert und die Jagd beginnt. Dann kann ihn nichts und niemand mehr aufhalten. Er nimmt ihr die Zeitschrift aus der Hand und mustert sie schweigend. »Browning ist unterwegs hierher«, verkündet er. »Im Moment besorgt er sich bei Gericht einen Durchsuchungsbefehl.« Er dreht die Zeitschrift um und liest den Adressaufkleber auf der Rückseite. »Scheiße!«, stößt er hervor. »Dein altes Büro. Gütiger Himmel.«
»Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat«, sagt sie, während ein kalter Nieselregen auf das alte Schieferdach fällt. »Außer es war einer meiner früheren Mitarbeiter.«
»Oder jemand, der einen deiner früheren Mitarbeiter kannte. Das ist die Adresse des Büros des Chefpathologen.« Er schaut noch einmal hin. »Ja, eindeutig. Nicht die der Labors. Juni 1996. Also während deiner Amtszeit. Das bedeutet, dass dein Büro diese Zeitschrift abonniert hatte.« Er kehrt zurück ins Wohnzimmer und blättert sie im Schein der Tischlampe durch. »Dann musst du doch wissen, wer sie bestellt hatte.«
»Ich habe niemals ein solches Abonnement genehmigt«, erwidert sie. »Eine Zeitschrift für Bestattungsunternehmer. Auf gar keinen Fall. Entweder hat der Betreffende es ohne meine Erlaubnis getan, oder er hat das Abonnement aus eigener Tasche bezahlt.«
»Hast du einen Verdacht?« Marino legt die Zeitschrift neben die Lampe auf den staubigen Tisch.
Ihr fällt plötzlich der ruhige junge Mann aus der Anatomie ein. Der schüchterne Bursche mit dem roten Haar, der in Frührente gegangen ist. Seit seinem Abschied hat sie kein einziges Mal mehr an ihn gedacht. Es gab ja auch keinen Grund dazu.
»Mir ist da jemand eingefallen«, sagt sie bedrückt. »Er heißt Edgar Allan Pogue.«
41
In der lachsfarbenen Villa ist niemand zu Hause, und er muss sich der traurigen Wahrheit stellen, dass sein Plan aus irgendeinem Grund gescheitert ist. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht, denn sonst würde es jetzt überall hier von Leuten wimmeln. Zumindest müssten Hinweise darauf zu erkennen sein, dass sich eine zuvor vorhandene Menschenmenge inzwischen verlaufen hat. Absperrband der Polizei zum Beispiel. Außerdem wäre bestimmt etwas darüber in den Nachrichten gekommen. Aber als er langsam an der Villa des großen Fischs vorbeifährt, sieht der Briefkasten unbeschädigt aus. Der kleine Signalwimpel aus Metall ist heruntergeklappt, und nichts deutet darauf hin, dass jemand zu Hause sein könnte.
Er kurvt um den Block, biegt wieder in den Highway A1A ein und kann der Versuchung nicht widerstehen, noch einmal vorbeizufahren. Dabei denkt er an den Signalwimpel am Briefkasten. Er war hochgeklappt, als er die Große Orange in den Briefkasten gelegt hat, da ist er ganz sicher. Dann fällt ihm ein, dass die Chlorbombe vielleicht immer noch in dem Briefkasten ruht, angeschwollen von Gasen und im Begriff zu explodieren. Was, wenn es so ist? Er muss es wissen. Sonst kann er weder essen noch schlafen. Tief in ihm regt sich eine Wut, die so vertraut und gegenwärtig ist wie seine kurzen Atemzüge. Im Bay Drive, gleich am Highway A1A, steht eine Reihe weißer einstöckiger Mietshäuser. Er biegt auf den Parkplatz ein und steigt aus seinem weißen Auto. Als er sich in Bewegung setzt, hängen ihm die gelockten langen Strähnen seiner schwarzen Perücke in die Augen. Er schiebt sie zurück und geht im Schein der niedrig stehenden Sonne die Straße hinunter.
Manchmal kann er die Perücke riechen, für gewöhnlich, wenn er an etwas anderes denkt oder beschäftigt ist. Dann steigt ihm der schwer zu beschreibende Geruch in die Nase. Plastik ist vielleicht der beste Vergleich, und das verwirrt ihn, weil die Perücke doch aus menschlichem Haar besteht. Also dürfte sie eigentlich nicht nach neuem Plastik riechen, außer er erschnuppert irgendeine Chemikalie, mit der sie bei der Herstellung behandelt worden ist. Palmwedel schwanken im dämmrigen Himmel, und die zarten Wolkenbänder haben hell erleuchtete, blassorangefarbene Ränder, als die Sonne untergeht. Er folgt dem Gehweg und betrachtet die Risse darin und die Gräser, die daraus hervorsprießen. Dabei achtet er darauf, nicht die schönen Häuser anzusehen, an denen er vorbeikommt, da die Leute in Stadtvierteln wie diesem Angst vor Verbrechern haben und jeden Fremden mit Argusaugen beobachten.
Kurz bevor er die lachsfarbene Villa erreicht, passiert er ein großes weißes Haus, das massiv in den Sonnenuntergang ragt. Er macht sich Gedanken über die Frau, die darin wohnt. Dreimal hat er sie jetzt schon gesehen, und sie hat es verdient, vernichtet zu werden. Eines Nachts, als er sich noch spät am Wellenbrecher hinter der lachsfarbenen Villa herumgedrückt hat, hat er sie in ihrem Schlafzimmerfenster im zweiten Stock beobachtet. Die Jalousien waren hochgezogen, und er konnte das Bett, andere Möbelstücke und einen riesigen Plasmafernseher erkennen. Im Fernsehen rannten Menschen, und dann flackerte eine Verfolgungsjagd auf Rennmotorrädern über den Bildschirm. Die Frau stand nackt am Fenster und presste sich dagegen. Ihre an der Scheibe platt gedrückten Brüste sahen abstoßend aus, als sie das Glas mit der Zunge berührte und ekelhafte, unmoralische Bewegungen machte. Zuerst befürchtete er, sie könnte ihn auf dem Wellenbrecher bemerken. Doch sie wirkte wie im Halbschlaf, als sie für die Leute, die nachts noch mit dem Boot unterwegs waren, und für die Männer von der Küstenwache auf der anderen Seite der Bucht ihre Privatvorführung abzog. Pogue ist neugierig, wie sie wohl heißt.
Er fragt sich, ob sie ihre Hintertür offen lässt und die Alarmanlage nicht einschaltet, wenn sie hinaus zum Swimmingpool geht, oder ob sie es beim Zurückkehren ins Haus vielleicht vergisst. Aber möglicherweise benutzt sie den Pool ja auch gar nicht, denkt er weiter. Er hat sie noch kein einziges Mal draußen auf der Terrasse oder bei ihrem Boot gesehen. Falls sie wirklich nie das Haus verlässt, wird es schwierig für ihn werden. Er betastet das weiße Taschentuch in seiner Tasche, zieht es heraus und wischt sich damit das Gesicht ab. Dann blickt er sich um und huscht zur Auffahrt und zum Briefkasten nebenan. Er tut ganz lässig, als würde er hierher gehören, aber er weiß, dass er mit seinen langen dunklen, verfilzten Haarsträhnen auffällt. Haare, die von einer Schwarzen oder Jamaikanerin stammen, passen nicht in diese Gegend, in der ausschließlich Weiße wohnen.
Er war schon einmal in dieser Straße. Auch damals hat er die Perücke getragen und sich Sorgen gemacht, sie könnte Aufmerksamkeit erregen. Aber es ist besser, die Perücke aufzusetzen, als auszusehen wie er selbst. Als er den Briefkasten des großen Fischs öffnet, ist er weder enttäuscht noch erleichtert, ihn leer vorzufinden. Er riecht keine Chemikalien und kann keine Beschädigungen entdecken, nicht einmal eine Verfärbung des schwarzen Lackes an der Innenseite. Also muss er sich mit der Tatsache abfinden, dass seine Bombe nicht die geringste Wirkung gehabt hat. Er ist ein wenig froh darüber, dass die Bombe weg ist, was heißt, dass jemand sie gefunden haben muss. Also weiß sie zumindest davon, und das ist vermutlich besser als gar nichts.