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Es ist sechs Uhr abends, und das Haus der nackten Dame beginnt, gegen die herannahende Dunkelheit anzuleuchten. Er riskiert einen Blick auf ihren Gartenweg aus rosafarbenem Beton und schaut durch den schmiedeeisernen Zaun in den Vorgarten und durch die Eingangstür aus dickem Glas. Pogue schlendert weiter und denkt daran, wie sie am Fenster gestanden hat. Er hasst sie dafür, dass sie sich an die Scheibe gepresst hat, dafür, dass sie hässlich und abstoßend ist, und dafür, dass sie ihren hässlichen und abstoßenden Körper auf diese Weise präsentiert. Leute wie sie glauben, dass ihnen die Welt gehört und dass sie ihm und seinesgleichen einen Gefallen tun, wenn sie ihn gnädigerweise an ihrem Körper oder ihren Wohltaten teilhaben lassen. Die nackte Dame ist geizig. Bei ihr ist alles nur Theater.

Weiber wie die führen die Männer bloß an der Nase herum. So lautete die Anmerkung von Pogues Mutter zu Frauen wie der nackten Dame. Seine Mutter war genauso, ein ganz schwerer Fall sogar, weshalb sein Vater sich irgendwann im Suff eingeredet hat, es sei wohl die beste Idee, sich an einem Balken in der Garage aufzuhängen. Pogue kennt sich also aus mit Weibern wie der da. Und falls einmal ein Mann mit Werkzeuggürtel und Arbeitsstiefeln an die Tür der nackten Dame klopfen und verlangen sollte, dass sie ihr Versprechen auch einlöst, würde sie vor Angst wahrscheinlich schreien und die Polizei rufen. Das ist typisch für Leute wie die nackte Dame. Sie tun so etwas jeden Tag, ohne sich was dabei zu denken.

Inzwischen sind zu viele Tage vergangen, und er hat sein Werk noch nicht vollendet. Das ist zu lang. Vor diesen Tagen waren es Wochen, und davor sogar drei Monate. Allerdings müsste er dann auch die Male mitzählen, als er jemanden ausgegraben hat, der bereits erledigt war. Und außerdem all die Male, die er andere bereits Erledigte in ihren rieselnden, staubigen Kartons aus der unterirdischen Anatomieabteilung nach oben geschleppt hat. Er hat sie aus seinem Geheimversteck geholt, sich Kiste um Kiste abgemüht und sie, immer zwei oder drei Erledigte auf einmal, die Treppe hinaufgetragen. Seine steifen Lungen brannten, und er bekam kaum noch Luft, als er die Kartons auf den Parkplatz wuchtete, sie dort abstellte, weitere nach oben schleppte und alle ins Auto hievte, um sie zu guter Letzt in Müllsäcken zu verstauen. Das war im September, als er in den Nachrichten gehört hatte, dass sein Gebäude abgerissen werden sollte.

Allerdings sind ausgegrabene Knochen und staubige Kartons einfach nicht dasselbe. Schließlich sind diese Leute bereits erledigt, und das ist etwas völlig anderes, als das Erledigen selbst zu übernehmen. Denn dann fühlt sich Pogue mächtig, übermenschlich und für einen Moment erlöst. Er nimmt die Perücke vom Kopf und schließt sich im Auto ein. Dann verlässt er den Parkplatz vor den weißen Häusern und kehrt auf die dunklen, frühabendlichen Straßen von Südflorida zurück. Seine Gedanken tragen ihn zur Other Way Lounge.

42

Die Lichtstrahlen von Taschenlampen stochern wie lange gelbe Bleistifte im schwarzen Garten herum. Scarpetta steht am Fenster und blickt hinaus. Sie hofft, dass die Polizei um diese Uhrzeit noch Glück haben wird, hat aber ihre Zweifel. Ihr Vorschlag erscheint ihr an den Haaren herbeigezogen, wenn nicht gar paranoid, was vielleicht an ihrer Übermüdung liegt.

»Also erinnern Sie sich nicht daran, ob er bei Mrs. Arnette gewohnt hat?«, fragt Detective Browning. Er sitzt auf einem schlichten Holzstuhl im Schlafzimmer, klopft mit einem Stift auf seinen Notizblock und kaut Kaugummi.

»Ich kannte ihn nicht«, erwidert sie und beobachtet, wie sich die langen Lichtstrahlen durch die Dunkelheit tasten. Sie spürt die kalte Luft, die durch die Fensterrahmen hereinzieht. Wahrscheinlich werden sie nichts finden, aber sie befürchtet, dass sie doch auf etwas stoßen. Sie denkt an den Knochenstaub in Gillys Mund und an der Leiche des Traktorfahrers und hat Angst, die Polizei könnte eine Entdeckung machen. »Ich habe keine Ahnung, mit wem er zusammengelebt oder ob er allein gewohnt hat. Schließlich kann ich mich kaum daran erinnern, je ein Wort mit ihm gewechselt zu haben.«

»Was soll man mit so einem verdrucksten Typen auch reden?«

»Leider galten die Mitarbeiter in der Anatomie beim übrigen Personal als ziemlich verschroben. Die Leute ekelten sich vor dem, was sie taten. Sie wurden zwar zu Partys, Picknicks und dem Grillfest am 4. Juli, das ich immer bei mir zu Hause veranstaltete, eingeladen, aber man wusste nie, ob sie auch auftauchen würden«, erklärt Scarpetta.

»War er je dabei?« Sie hört, wie Browning den Kaugummi heftig mit den Zähnen bearbeitet, während sie weiter dasteht und aus dem Fenster starrt.

»Das weiß ich beim besten Willen nicht mehr. Edgar Allan kam und ging, ohne dass es jemandem auffiel. Auch wenn es unfreundlich klingt, war er der farbloseste Mensch, der je für mich gearbeitet hat. Ich erinnere mich kaum daran, wie er aussah.«

»Aussehen ist der Schlüsselbegriff. Wir haben nämlich keine Ahnung, wie er heute aussieht.« Browning überlegt laut und blättert in seinem Notizbuch herum. »Sie sagten, er sei damals klein und rothaarig gewesen. Wie groß etwa? Eins achtundsechzig, eins siebzig? Fünfundsiebzig Kilo?«

»Eher eins fünfundsechzig und vielleicht fünfundsechzig Kilo«, erinnert sie sich. »Welche Augenfarbe er hatte, kann ich nicht sagen.«

»Laut Führerscheinstelle sind sie braun. Aber möglicherweise stimmt das nicht, weil er auch Körpergröße und Gewicht falsch angegeben hat. Auf seinem Führerschein ist er eins fünfundsiebzig und wiegt fünfundachtzig Kilo.«

»Warum fragen Sie mich dann?« Sie dreht sich um und sieht ihn an.

»Um Ihnen die Chance zu geben, sich zu erinnern, bevor ich Sie mit vermutlich falschen Informationen beeinflusse.« Er zwinkert ihr zu und kaut weiter Kaugummi. »Außerdem hat er behauptet, er hätte braunes Haar.« Er klopft mit dem Stift auf den Notizblock. »Was hat ein Typ, der in der Anatomie Leichen einbalsamiert hat, denn damals so verdient?«

»Vor acht oder zehn Jahren?« Wieder schaut sie aus dem Fenster in die Nacht hinaus und betrachtet die Lichter, die in Gilly Paulssons Haus auf der anderen Seite des Zauns brennen. Die Polizei ist auch in ihrem Garten und in ihrem Zimmer. Sie kann sehen, wie sich hinter den Vorhängen Schatten bewegen. Wahrscheinlich hat Edgar Allan Pogue durch dasselbe Fenster hineingestarrt, wann immer er die Möglichkeit dazu hatte. Er hat beobachtet, phantasiert, vielleicht sogar den Spielen zugeschaut, die in diesem Haus getrieben wurden, und dabei Flecken auf seinen Laken hinterlassen. »Meiner Schätzung nach können es nicht mehr als zweiundzwanzigtausend Dollar pro Jahr gewesen sein.«

»Und dann hat er plötzlich gekündigt und behauptet, er sei aus irgendeinem Grund arbeitsunfähig. So was kommt wohl häufiger vor.«

»Kontakt mit Formaldehyd. Er hat nicht simuliert. Ich musste damals seine Arztberichte überprüfen und habe vermutlich auch mit ihm gesprochen. Es muss so gewesen sein. Wegen des Formaldehyds hatte er eine Erkrankung der Atmungsorgane, eine Lungenfibrose, die durch Röntgenbilder und eine Biopsie nachgewiesen wurde. Soweit ich mich erinnere, ergaben die Untersuchungen, dass mit dem Sauerstoffgehalt seines Blutes einiges im Argen lag, und das Spirometer zeigte eine eindeutig eingeschränkte Atmung.«

»Spirowas?«

»Das ist ein Gerät, in das man hineinatmet, um die Atmungsfunktion zu messen.«

»Verstanden. Als ich noch geraucht habe, wäre ich wahrscheinlich durchgefallen.«

»Wenn Sie weitergeraucht hätten, wäre es irgendwann sicher so weit gewesen.«

»Gut. Also hatte Edgar Allan wirklich ein Problem. Muss ich annehmen, dass er immer noch krank ist?«

»Tja, sobald er keinen Kontakt mit Formaldehyd oder anderen reizenden Stoffen mehr hatte, hätte die Krankheit eigentlich nicht weiter fortschreiten dürfen. Das heißt allerdings nicht, dass er geheilt ist, weil sich Narbengewebe gebildet hat, und das ist irreversibel. Ja, er ist sicher immer noch nicht gesund, aber wie schwer seine Erkrankung ist, kann ich nicht sagen.«