»Dann müsste er doch regelmäßig zum Arzt gehen. Glauben Sie, wir finden den Namen seines Arztes in seiner alten Personalakte?«
»Sofern sie noch existiert, liegt sie in der Registratur. Genau genommen müssen Sie Dr. Marcus fragen. Ich bin nicht zuständig.«
»Aha. Aber mich interessiert Ihre Meinung als Ärztin, Dr. Scarpetta. Ich möchte wissen, wie krank dieser Typ ist. Geht er regelmäßig zum Arzt oder in eine Klinik, und muss er verschreibungspflichtige Medikamente einnehmen?«
»Wahrscheinlich nimmt er Medikamente. Es muss aber nicht so sein, solange er auf seine Gesundheit achtet und einen großen Bogen um Leute macht, die erkältet sind oder die Grippe haben, damit er sich nicht ansteckt. Einen Infekt der oberen Atemwege sollte er nämlich unter allen Umständen vermeiden, da er, anders als Sie oder ich, kaum noch gesundes Lungengewebe hat. Also könnte er schwer erkranken und sich zum Beispiel eine Lungenentzündung zuziehen. Wenn er zu Asthma neigt, wird er alles meiden, was einen Anfall auslösen könnte. Vielleicht nimmt er verschreibungspflichtige Medikamente wie zum Beispiel Steroide. Er könnte auch Spritzen gegen Allergien bekommen. Möglicherweise schluckt er auch frei verkäufliche Arzneimittel. Alles kommt in Frage, auch dass er seine Erkrankung einfach ignoriert.«
»Okay, okay«, erwidert Browning, klopft mit dem Stift und kaut heftig. »Aber bei einem Kampf würde ihm doch sicher rasch die Puste ausgehen.«
»Wahrscheinlich.« Dieses Gespräch dauert nun schon über eine Stunde, und Scarpetta ist sehr müde. Sie hat den ganzen Tag lang kaum etwas gegessen und fühlt sich erschöpft. »Es kann zwar sein, dass er über Muskelkraft verfügt, aber er ist in seiner körperlichen Aktivität eingeschränkt. Zum Kurzstreckenläufer oder Tennisspieler eignet er sich sicherlich nicht. Falls er jahrelang immer wieder Stereoide eingenommen hat, ist er vielleicht zu dick und hat keine gute Kondition.« Die langen hellen Strahlen der Taschenlampen gleiten über den Holzschuppen hinter dem Haus und bleiben an der Tür hängen. Ein uniformierter Polizist, der gerade mit einem Bolzenschneider das Schloss bearbeitet, steht mitten im Lichtkegel.
»Finden Sie es dann nicht seltsam, dass er Gilly Paulsson überfallen hat, obwohl sie die Grippe hatte? Hätte er denn nicht befürchten müssen, sich anzustecken?«, fragt Browning.
»Nein«, erwidert sie und beobachtet den Polizisten mit dem Bolzenschneider. Plötzlich schwingt die Tür weit auf, und die Lichtstrahlen durchbohren die Dunkelheit im Inneren des Schuppens.
»Warum nicht?«, hakt Browning nach. Scarpettas Mobiltelefon vibriert.
»Drogensüchtige mit Entzugserscheinungen denken auch nicht an Hepatitis und AIDS. Serienvergewaltiger und Mörder machen sich keine Sorgen über Geschlechtskrankheiten, wenn sie Lust haben, jemanden zu vergewaltigen oder zu ermorden«, entgegnet sie und nimmt das Telefon aus der Tasche. »Nein, ich glaube nicht, dass Edgar Allan sich den Kopf über die Grippe zerbrechen würde, wenn ihn der Drang überkommt, ein junges Mädchen umzubringen … Entschuldigen Sie bitte.« Sie nimmt das Gespräch an.
»Ich bin es«, sagt Rudy. »Es ist etwas passiert, das du wissen solltest. Es geht um den Fall, den du gerade in Richmond bearbeitest. Latente Fingerabdrücke aus diesem Fall stimmen mit denen aus einem Fall überein, an dem wir hier in Florida dran sind. IAFIS hat die Übereinstimmung festgestellt. Allerdings ist der Besitzer unbekannt.«
»Wer ist wir?«
»Ein Fall, mit dem Lucy und ich beschäftigt sind. Du weißt nicht, worum es geht, und es ist zu kompliziert, um es dir jetzt zu erklären. Lucy wollte nicht, dass du davon erfährst.«
Scarpetta hört ungläubig zu, und ihre Benommenheit schwindet. Durch das Fenster sieht sie, wie sich eine große, dunkel gekleidete Gestalt vom Schuppen hinter dem Haus entfernt. Seine Taschenlampe bewegt sich im Gleichtakt mit seinen Schritten. Marino kommt auf das Haus zu.
»Ich darf nicht drüber reden.« Er hält inne und holt Luft. »Aber ich kann Lucy nicht erreichen. Ihr gottverdammtes Telefon. Keine Ahnung, was sie gerade treibt, aber sie geht wieder mal nicht ran. Schon seit zwei Stunden nicht. Ein Mordversuch an einer unserer Mitarbeiterinnen. Sie war in Lucys Haus, als es geschah.«
»O Gott.« Scarpetta schließt kurz die Augen.
»Es ist echt seltsam. Zuerst dachte ich, sie will sich nur wichtig machen, aber die Fingerabdrücke auf der Flaschenbombe sind identisch mit denen im Schlafzimmer. Und auch dieselben wie in deinem Fall in Richmond, dem des toten Mädchens, zu dem man dich hinzugezogen hat.«
»Was genau ist der Frau in deinem Fall zugestoßen?«, erkundigt sich Scarpetta.
»Sie lag krank im Bett. Die Grippe. Wir wissen nicht genau, was dann passiert ist, nur dass er durch eine unverschlossene Tür eingedrungen sein muss. Vermutlich wurde er dadurch verscheucht, dass Lucy nach Hause gekommen ist. Das Opfer war bewusstlos, stand unter Schock und ist dann völlig ausgerastet. Keine Ahnung. Sie erinnert sich an nichts mehr, aber sie lag nackt und bäuchlings auf dem Bett. Die Decken waren heruntergezogen.«
»Verletzungen?«
»Nur ein paar Blutergüsse. Benton sagt, auf ihren Händen, ihrer Brust und auf dem Rücken.«
»Also weiß Benton davon. Jeder außer mir ist informiert«, sagt Scarpetta wütend. »Lucy hat es mir verschwiegen. Warum?«
Rudy zögert und weiß nicht, wie er sich ausdrücken soll. »Vermutlich aus persönlichen Gründen.«
»Ich verstehe.«
»Entschuldige. Ich sage lieber nichts mehr dazu. Aber es tut mir wirklich Leid. Ich hätte es dir gar nicht erzählen sollen, aber du musst es wissen, weil offenbar ein Zusammenhang zu deinem Fall besteht. Frag mich nicht, welcher. Mein Gott, so etwas Merkwürdiges ist mir noch nie untergekommen. Womit haben wir es hier zu tun, verdammt? Einem Spinner?«
»Mehr als das«, meint sie zu Rudy. »Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich um einen weißen Mann namens Edgar Allan Pogue, etwa Mitte dreißig. Es gibt Datenbanken für Apotheken«, fährt sie fort. »Er könnte in einer oder mehreren davon verzeichnet sein, weil er möglicherweise wegen einer Erkrankung der Atmungsorgane Stereoide einnimmt. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«
»Brauchst du auch nicht«, entgegnet Rudy und klingt ein wenig aufgemuntert.
Scarpetta beendet das Gespräch und ihr schießt dabei durch den Kopf, dass sich ihre Einstellung zu Regeln verändert, wie Licht es abhängig vom Wetter und von der Jahreszeit tut. Dinge, die früher ein bestimmtes Gesicht hatten, sehen heute ganz anders aus und werden sich in den kommenden Tagen und Jahren weiter wandeln. Es gibt auf der Welt kaum eine Datenbank, auf die Das Letzte Revier keinen Zugriff hätte. Und im Moment geht es darum, ein Ungeheuer zu schnappen. Zum Teufel mit den Regeln. Zum Teufel mit den Schuldgefühlen und Zweifeln, die sie spürt, als sie im Schlafzimmer steht und das Telefon wieder in die Tasche steckt.
»Von seinem Schlafzimmerfenster konnte er in ihres hineinschauen«, führt Scarpetta das Gespräch mit Browning fort. »Falls Mrs. Paulsson ihre so genannten Spielchen im Haus veranstaltet hat, hat er sie möglicherweise durch die Scheiben beobachtet. Und wenn, Gott behüte, ein Teil davon in Gillys Zimmer stattfand, hat er das auch gesehen.«
Marino tritt ins Schlafzimmer und blickt Scarpetta eindringlich an. »Doc?«
»Ich will darauf hinaus, dass es mit der menschlichen Natur, genauer der beschädigten menschlichen Natur, eine seltsame Bewandtnis hat«, spricht sie weiter. »Jemand, der sieht, wie jemand zum Opfer gemacht wird, kann Lust bekommen, sich auch an dieser Person zu vergehen. Durch ein Fenster Zeuge sexueller Gewalt zu werden, kann provozierend auf jemanden wirken, der bereits Tendenzen …«
»Was für Spiele?«, fällt Browning ihr ins Wort.
»Doc?«, wiederholt Marino, und sein Blick ist hart. Es lodert die Wut darin, die ein Bestandteil der Jagd ist. »Offenbar haben wir es da draußen im Schuppen mit einer ziemlichen Menschenansammlung zu tun. Lauter Tote. Ich glaube, das solltest ihr euch mal anschauen.«