»Sie haben gerade von einem anderen Fall gesprochen«, hakt Browning nach, als sie den schmalen, dämmrigen und kalten Flur entlanggehen. Plötzlich hat Scarpetta das Gefühl, dass der Geruch nach Staub und Moder ihr den Atem raubt, und sie versucht, nicht an Lucy zu denken. Auch nicht daran, was ihre Nichte als persönlich und geheim einstuft. Scarpetta berichtet Browning und Marino, was sie gerade von Rudy erfahren hat. Browning reagiert aufgeregt, Marino verstummt.
»Dann ist Pogue vermutlich in Florida«, sagt Browning. »Darauf würde ich jede Wette eingehen.« Er wirkt verwirrt, während die verschiedensten Gedanken in seinen Augen aufblitzen. In der Küche bleibt er stehen und fügt hinzu: »Ich komme gleich nach.« Mit diesen Worten nimmt er das Telefon vom Gürtel.
Ein Spurensicherungsexperte in einem marineblauen Overall und mit Baseballkappe nimmt Fingerabdrücke von der Abdeckung des Lichtschalters in der Küche. Scarpetta hört die anderen Polizisten im Wohnzimmer des bedrückenden kleinen Hauses. An der Hintertür stehen große schwarze Müllsäcke, verschlossen und als Beweisstücke etikettiert. Junius Eise fällt ihr ein. Er wird alle Hände voll damit zu tun haben, den wirren Müll aus Edgar Allan Pogues wirrem Leben zu sortieren.
»Hat der Kerl je in einem Beerdigungsinstitut gearbeitet?«, fragt Marino Scarpetta. Hinter dem Haus ist der Garten überwuchert, tot und mit feuchtem Laub bedeckt. »In dem Schuppen stapeln sich Unmengen von Kartons, in denen sich offenbar menschliche Asche befindet. Sie scheinen zwar schon ein paar Jahre alt zu sein, stehen meiner Ansicht nach aber noch nicht lange hier. So als ob er sie erst vor kurzem in den Schuppen gebracht hätte.«
Sie schweigt, bis sie den Schuppen erreicht haben. Dort angekommen, leiht sie sich von einem Polizisten die Taschenlampe und leuchtet mit dem starken Strahl in den Raum. Das Licht fällt auf große Müllsäcke aus Plastik, die die Polizisten geöffnet haben. Daraus ergießen sich weiße Asche, kalkige Knochenstückchen und billige Blechschachteln und Zigarrenkistchen, die mit weißem Staub bedeckt sind. Einige davon sind verbeult. Neben der offenen Tür steht ein Polizist, deutet mit einem Schlagstock hinein und stochert in einem offenen Sack mit Asche herum.
»Glauben Sie, er hat diese Leute selbst verbrannt?«, will der Polizist von Scarpetta wissen. Der Lichtstrahl ihrer Lampe gleitet durch das Innere des Schuppens und bleibt an langen Knochen und einem Schädel hängen, der die Farbe von altem Pergament hat.
»Nein«, erwidert sie. »Dazu hätte er sein eigenes Krematorium haben müssen. Das sind typische Krematoriumsreste.« Sie weist mit dem Lichtstrahl auf einen staubigen und verbeulten Karton, der halb unter der Asche in einem Müllsack begraben ist. »Die Asche des Verstorbenen wird den Angehörigen in einem einfachen Karton wie diesem ausgehändigt. Wer etwas Eleganteres will, muss es kaufen.« Sie beleuchtet die unverbrannten langen Knochen und den Schädel, der ihnen aus schwarzen leeren Augenhöhlen und mit einer zahnlückigen Grimasse entgegenstarrt. »Um eine menschliche Leiche zu Asche zerfallen zu lassen, sind Temperaturen von mehr als tausend Grad nötig.«
»Was ist mit den unverbrannten Knochen?« Er deutet mit dem Schlagstock auf die langen Knochen und den Schädel. Obwohl der Schlagstock in seiner Hand nicht zittert, merkt sie ihm sein Entsetzen an.
»Ich würde nachprüfen, ob es in dieser Gegend kürzlich Fälle von Grabraub gegeben hat«, sagt sie. »Die Knochen machen einen ziemlich alten Eindruck auf mich. Frisch sind sie ganz sicher nicht. Außerdem rieche ich nichts, was auf verwesende Leichen hinweist.« Sie sieht den Schädel an, der ihren Blick erwidert.
»Nekrophilie«, verkündet Marino, lässt den Lichtstrahl seiner Lampe durch den Schuppen tanzen und beleuchtet den weißen Staub von unzähligen Menschen, der offenbar jahrelang irgendwo gesammelt wurde und vor kurzem in diesen Schuppen gebracht worden ist.
»Ich weiß nicht«, antwortet Scarpetta, knipst ihre Lampe aus und entfernt sich vom Schuppen. »Allerdings könnte er durchaus eine Betrugsmasche am Laufen haben. Er nimmt die Asche Verstorbener gegen eine Gebühr an und behauptet, den letzten Wunsch des armen Teufels zu erfüllen, indem er seine Überreste auf einem Berg, über dem Meer, in einem Garten oder an seinem liebsten Fischteich verstreut. Nachdem er das Geld kassiert hat, lagert er die Asche einfach irgendwo ein, vermutlich in diesem Schuppen. Niemand weiß davon. So etwas ist schon öfter vorgekommen. Vielleicht hatte er ja bereits damit anfangen, als er noch für mich gearbeitet hat. Ich würde mich auch mit den hiesigen Krematorien in Verbindung setzen und mich erkundigen, ob er sich dort herumgedrückt hat, um Kundschaft anzuwerben. Natürlich wird das wahrscheinlich niemand zugeben.« Sie stapft durch das feuchte tote Laub davon.
»Also geht es um Geld?« Der Polizist mit dem Schlagstock folgt ihr. Seine Stimme klingt ungläubig.
»Möglicherweise hat ihn der Tod irgendwann so fasziniert, dass er angefangen hat, ihn selbst herbeizuführen«, antwortet sie und marschiert weiter durch den Garten. Der Regen hat aufgehört. Der Wind hat sich gelegt, und der Mond lugt hinter den Wolken hervor. Er ist dünn und fahl und steht wie eine Glasscherbe hoch über dem vermoosten Schieferdach des Hauses, in dem Edgar Allan Pogue gelebt hat.
43
Draußen auf der nebligen Straße genügt der Lichtkegel der nächsten Straßenlaterne gerade, um Scarpettas Schatten auf den Alphalt zu werfen, als sie über den feuchten, dunklen Garten hinweg die Fenster zu beiden Seiten der Tür betrachtet.
Die Bewohner dieser Gegend oder die Leute in vorbeifahrenden Autos hätten eigentlich das Licht im Haus und das Kommen und Gehen eines rothaarigen Mannes bemerken müssen. Vielleicht ist er ja auch motorisiert. Doch wie Browning ihr gerade mitgeteilt hat, weist nichts darauf hin, dass Pogue irgendein Fahrzeug besitzt, was seltsam klingt. Es bedeutet, dass der Wagen, den er vermutlich fährt, nicht auf ihn zugelassen ist. Entweder gehört ihm das Auto nicht, oder er verwendet gestohlene Nummernschilder. Allerdings ist es auch möglich, dass er gar kein Auto hat.
Das Mobiltelefon in ihrer Tasche fühlt sich schwer und lästig an, obwohl es eigentlich recht klein ist und nicht viel wiegt. Aber ihre Gedanken an Lucy bedrücken sie, und unter den gegebenen Umständen wagt sie es kaum, ihre Nichte anzurufen. Ganz gleich, wie Lucys persönliche Situation auch aussehen mag, graut es Scarpetta davor, Einzelheiten zu erfahren. Über das Privatleben ihrer Nichte gibt es nur selten etwas Erfreuliches zu berichten, und der Teil von Scarpetta, der offenbar nichts Besseres zu tun hat, als sich Sorgen zu machen und zu grübeln, verbringt ziemlich viel Zeit damit, sich die Schuld an Lucys Beziehungsunfähigkeit zu geben. Benton ist in Aspen, und sicher weiß Lucy darüber Bescheid. Bestimmt ist ihr auch klar, dass es zwischen Scarpetta und Benton nicht gut läuft, und zwar schon, seit sie wieder zusammen sind.
Scarpetta wählt gerade Lucys Nummer, als die Tür aufschwingt und Marino auf die dunkle Veranda hinaustritt. Scarpetta findet es merkwürdig, dass er mit leeren Händen einen Tatort verlässt. Als Detective in Richmond ist er nie gegangen, ohne so viele Beutel mit Beweisstücken mitzunehmen, wie in seinen Kofferraum passten. Nun jedoch hat er nichts bei sich, denn er ist in Richmond nicht mehr zuständig, weshalb es das Sinnvollste ist, wenn die Polizei die Beweismittel sicherstellt, beschriftet und gegen Aushändigung einer Quittung im Labor abgibt. Vielleicht werden diese Polizisten ihre Arbeit ja gut machen, nichts Wichtiges vergessen und auch nichts einsammeln, was nicht von Bedeutung ist. Doch während Scarpetta Marino beobachtet, der langsam den Backsteinweg entlang auf sie zukommt, fühlt sie sich machtlos und beendet den Anruf bei Lucy, bevor sich die Mailbox meldet.
»Was hast du vor?«, fragt sie Marino, als er bei ihr angekommen ist.
»Ich hätte jetzt gerne eine Zigarette«, erwidert er und blickt die unregelmäßig erleuchtete Straße entlang. »Jimmy, der furchtlose Immobilienmakler, hat mich zurückgerufen. Er hat Bernice Towle erreicht. Sie ist die Tochter.«