»Die Tochter von dieser Mrs. Arnette?«
»Genau. Und Mrs. Towle wusste nichts davon, dass jemand in dem Haus wohnt. Sie glaubt, dass es schon seit einigen Jahren leer steht. Es gibt da irgendein bescheuertes Testament, das ich nicht ganz kapiere. Die Familie darf das Haus nicht unterhalb eines gewissen Preises verkaufen, und Jim sagt, dass sie den nie im Leben bekommen werden. Keine Ahnung. Ich könnte jetzt wirklich eine Zigarette brauchen. Vielleicht liegt es ja an dem Zigarrenrauch da drin.«
»Was ist mit Gästen? Hat Mrs. Towle das Haus Gästen überlassen?«
»In dieser Bruchbude hat angeblich schon seit Menschengedenken niemand mehr übernachtet. Möglicherweise hat er es ja gemacht wie die Obdachlosen, die sich in verlassenen Gebäuden einnisten. Sie richten sich dort häuslich ein, wenn jemand kommt, verdrücken sie sich, und sobald die Luft wieder rein ist, kehren sie zurück. Wäre durchaus möglich. Und was willst du jetzt tun?«
»Ich denke, wir sollten ins Hotel fahren.« Sie schließt den Geländewagen auf und wirft noch einen Blick auf das erleuchtete Haus. »Heute Nacht können wir sowieso nicht mehr viel ausrichten.«
»Ich frage mich, wie lange die Hotelbar wohl geöffnet hat«, meint er, öffnet die Beifahrertür, zieht die Hosenbeine hoch, als er aufs Trittbrett steigt, und klettert vorsichtig in den Wagen. »Inzwischen bin ich hellwach. So ist das immer, verdammt. Eine einzige Zigarette wird mir schon nicht schaden. Und ein paar Bier. Dann kann ich vielleicht schlafen.«
Sie zieht die Tür zu und lässt den Motor an. »Hoffentlich ist die Bar geschlossen«, erwidert sie. »Wenn ich was trinke, wird die Sache nur noch schlimmer, weil ich dann nicht mehr denken kann. Was ist passiert, Marino?« Als sie losfährt, tanzen hinter ihr die Lichter von Edgar Allan Pogues Haus. »Er hat hier gewohnt. Hat jemand davon gewusst? Sein Holzschuppen ist voller menschlicher Überreste, und niemand hat ihn je im Garten oder in der Nähe dieses Schuppens gesehen? Willst du behaupten, dass er Mrs. Paulsson niemals dort aufgefallen ist? Oder vielleicht Gilly?«
»Warum fahren wir nicht kurz bei ihr vorbei und fragen sie selbst?«, gibt Marino zurück und schaut aus dem Fenster. Seine riesigen Hände liegen auf dem Schoß, als wolle er seine Verletzung schützen.
»Es ist fast Mitternacht.«
Er lacht höhnisch auf. »Die liebe Höflichkeit.«
»Einverstanden.« Sie biegt in der Grace Street links ab. »Aber mach dich auf etwas gefasst. Schwer zu sagen, was sie dir an den Kopf wirft, wenn sie dich sieht.«
»Sie sollte sich lieber auf etwas von mir gefasst machen, nicht umgekehrt.«
Scarpetta wendet und parkt hinter dem dunkelblauen Minivan vor dem Haus. Nur im Wohnzimmer brennt Licht, das durch die zarten Vorhänge schimmert. Sie überlegt, wie sie Mrs. Paulsson dazu bringen soll, an die Tür zu kommen, und beschließt, dass es wohl das Klügste ist, sie anzurufen. Also blättert sie auf dem Mobiltelefon die kürzlich geführten Anrufe durch und hofft, dass Mrs. Paulssons Nummer noch gespeichert ist, aber sie ist schon gelöscht. Also wühlt sie den Zettel, den sie seit ihrer ersten Begegnung mit Suzanna Paulsson besitzt, aus ihrer Tasche hervor, tippt die Nummer ins Telefon ein und schickt sie in den Äther oder wohin Anrufe sonst geschickt werden. Sie stellt sich vor, wie neben Mrs. Paulssons Bett das Telefon läutet.
»Hallo?« Mrs. Paulssons Stimme klingt argwöhnisch und benommen.
»Hier spricht Kay Scarpetta. Ich stehe vor Ihrem Haus. Es ist etwas geschehen, und ich muss mit Ihnen sprechen. Bitte kommen Sie an die Tür.«
»Wie viel Uhr ist es?«, fragt sie verwirrt und verängstigt.
»Bitte kommen Sie an die Tür«, erwidert Scarpetta nur und steigt aus. »Ich bin draußen.«
»Schon gut, schon gut.« Sie legt auf.
»Bleib im Auto«, sagt Scarpetta in den Wagen hinein. »Warte, bis sie aufmacht. Wenn sie dich durchs Fenster sieht, wird sie uns nicht reinlassen.«
Sie schließt die Tür. Marino sitzt reglos in der Dunkelheit, während sie zur Veranda geht. Lichter gehen an, als Mrs. Paulsson sich durchs Haus in Richtung Tür bewegt. Scarpetta wartet. Ein Schatten huscht hinter dem Wohnzimmervorhang vorbei. Mrs. Paulsson späht dazwischen hervor, dann fällt der Vorhang wieder zu, und die Tür öffnet sich. Mrs. Paulsson trägt einen Morgenmantel aus rotem Flanell mit Reißverschluss. Ihr Haar ist vom Liegen zerdrückt, ihre Augen sind verschwollen.
»Mein Gott, was ist denn jetzt schon wieder?«, fragt sie und lässt Scarpetta herein. »Was wollen Sie hier? Was ist passiert?«
»Kannten Sie den Mann, der in dem Haus hinter Ihrem Zaun gewohnt hat?«, erkundigt sich Scarpetta.
»Welchen Mann?« Sie wirkt durcheinander und erschrocken. »Welcher Zaun?«
»Das Haus dort hinten.« Scarpetta zeigt mit dem Finger und wartet auf Marino. »Ein Mann hat da gewohnt. Nun sagen Sie schon. Sie müssen doch gewusst haben, dass da jemand gelebt hat, Mrs. Paulsson.«
Als Marino an die Tür klopft, zuckt Mrs. Paulsson zusammen und fasst sich ans Herz. »Mein Gott! Was ist denn jetzt los?«
Scarpetta macht die Tür auf, und Marino kommt herein. Sein Gesicht ist gerötet, und er weicht Mrs. Paulssons Blick aus, als er die Tür schließt und ins Wohnzimmer tritt.
»Oh, Mist!«, ruft Mrs. Paulsson verärgert. »Diesen Kerl will ich nicht im Haus haben«, sagt sie zu Scarpetta. »Schicken Sie ihn weg!«
»Erzählen Sie uns von dem Mann hinter Ihrem Zaun«, beharrt Scarpetta. »Sie müssen doch gesehen haben, dass im Haus Licht brannte.«
»Hat er sich Edgar Allan oder Al oder irgendwie anders genannt?«, ergänzt Marino. Sein Gesicht ist immer noch rot, seine Miene ist hart. »Tisch uns hier keine Märchen auf, Suz. Dazu sind wir jetzt nicht in der Stimmung. Wie hat er sich genannt? Ich wette, ihr beide wart gute Kumpel.«
»Ich schwöre, dass ich nichts von einem Mann dort hinten weiß«, protestiert sie. »Warum? Hat er …? Glauben Sie …? O Gott.« Angst leuchtet in ihren tränennassen Augen auf, und sie wirkt absolut aufrichtig, so wie jeder gute Lügner. Aber Scarpetta glaubt ihr nicht.
»War er je hier im Haus?«, erkundigt sich Marino.
»Nein!« Sie schüttelt den Kopf und krampft die Hände in Taillenhöhe ineinander.
»Ach, wirklich?«, höhnt Marino. »Woher willst du das wissen, wenn du nicht einmal eine Ahnung hast, von wem wir reden? Vielleicht ist er ja der Milchmann. Vielleicht hat er mal reingeschaut, um bei deinen Spielchen mitzuspielen. Wie kannst du behaupten, dass er niemals bei dir im Haus war, ohne zu wissen, vom wem überhaupt die Rede ist?«
»Ich lasse mich nicht so behandeln«, wendet sie sich an Scarpetta.
»Beantworten Sie die Frage«, gibt Scarpetta nur zurück und blickt sie an.
»Ich habe doch schon gesagt …«
»Und ich sage dir, dass seine gottverdammten Fingerabdrücke in Gillys Zimmer gefunden wurden«, zischt Marino und macht einen Schritt auf sie zu. »Hast du den rothaarigen kleinen Schweinehund zu einem deiner Spielchen eingeladen? War es so, Suz?«
»Nein!« Tränen laufen ihr die Wangen hinunter. »Nein! Da hinten wohnt niemand! Nur die alte Frau, und die ist schon seit Jahren fort! Es kann sein, dass hin und wieder jemand im Haus ist, aber richtig wohnen tut niemand dort. Ich schwöre! Seine Fingerabdrücke? O Gott, mein kleines Kind. Mein kleines Kind …« Schluchzend schlingt sie die Arme um ihren Leib und weint so heftig, dass ihre Unterlippe die Zähne freigibt. Dann presst sie die zitternden Hände an die Wangen. »Was hat er mit meinem kleinen Kind gemacht?«
»Er hat sie umgebracht«, entgegnet Marino. »Erzähl uns von ihm, Suz.«
»O nein«, jammert sie. »O Gilly …«
»Setz dich, Suz.«
Schluchzend bleibt sie stehen und schlägt die Hände vors Gesicht.
»Setz dich!«, befiehlt Marino streng. Scarpetta kennt dieses Spiel. Sie lässt ihn gewähren, weil sie weiß, dass er es kann, auch wenn es ihr schwer fällt zuzusehen.
»Setz dich!« Er weist aufs Sofa. »Und sag einmal in deinem Leben die Wahrheit. Gilly zuliebe.«