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Mrs. Paulsson sinkt auf das karierte Sofa, das zwischen den Fenstern steht. Ihre Hände bedecken immer noch ihr Gesicht, die Tränen laufen ihr den Hals hinunter und durchnässen die Vorderseite ihres Bademantels. Scarpetta stellt sich, Mrs. Paulsson gegenüber, vor den kalten Kamin.

»Erzähl mir von Edgar Allan Pogue«, beginnt Marino langsam und mit lauter Stimme. »Hörst du mich, Suz? Hallo? Suz? Er hat dein kleines Mädchen auf dem Gewissen. Aber vielleicht interessiert dich das ja nicht. Sie war doch so lästig. Du hast selbst gesagt, wie schlampig sie war. Du warst nur damit beschäftigt, hinter der verwöhnten Göre herzuräumen …«

»Hör auf!«, kreischt sie. Aus großen, geröteten Augen starrt sie ihn hasserfüllt an. »Hör auf damit, du verdammter … Du …« Schluchzend wischt sie sich mit einer zitternden Hand über die Nase. »Meine Gilly …«

Marino setzt sich in den Lehnsessel. Beide scheinen Scarpetta völlig vergessen zu haben, auch wenn das bei ihm ganz sicher nicht der Fall ist. Er hat diese Szene oft genug gespielt. »Willst du, dass wir ihn fassen, Suz?«, fragt er, plötzlich freundlicher und ruhiger. Er beugt sich vor und stützt seine massigen Unterarme auf die dicken Knie. »Was willst du? Verrat es mir.«

»Ja.« Sie nickt unter Tränen. »Ja.«

»Dann hilf uns.«

Weinend schüttelt sie den Kopf.

»Du willst uns also nicht helfen?« Er lehnt sich im Sessel zurück und blickt Scarpetta an, die immer noch vor dem Kamin steht. »Sie will uns nicht helfen, Doc. Sie will nicht, dass wir ihn kriegen.«

»Nein«, schluchzt Mrs. Paulsson. »Ich … ich weiß nicht. Ich habe ihn nur gesehen. Ich glaube, es war … Ich bin mal abends rausgegangen … rüber zum Zaun … Ich bin zum Zaun, um Sweetie zu holen, und da war ein Mann hinten im Garten.«

»Im Garten hinter diesem Haus?«, meint Marino. »Auf der anderen Seite des Zauns?«

»Er war hinter dem Zaun. Zwischen den Brettern sind Ritzen, und er hatte die Finger durchgestreckt, um Sweetie zu streicheln. Ich habe hallo gesagt. Mehr nicht … Oh, Mist.« Sie schnappt nach Luft. »Oh, Mist. Er war es. Er hat Sweetie gestreichelt.«

»Was hat er dir geantwortet?«, fragt Marino mit ruhiger Stimme. »Hat er überhaupt was gesagt?«

»Er sagte …« Ihre Stimme wird höher und erstirbt. »Er … er sagte: ›Ich mag Sweetie.‹«

»Woher kannte er den Namen deines Hundes?«

»›Ich mag Sweetie‹, sagte er.«

»Woher wusste er, dass dein Hund so heißt?«, wiederholt Marino.

Sie holt tief Luft, starrt auf den Boden, und ihr Schluchzen wird schwächer.

»Tja, möglicherweise hat er dein Hündchen ja auch mitgenommen«, spricht Marino weiter. »Schließlich mochte er es. Oder hast du Sweetie in letzter Zeit gesehen?«

»Also hat er Sweetie mitgenommen.« Sie verkrampft die Hände im Schoß, bis sich ihre Knöchel weiß verfärben. »Er hat alles mitgenommen.«

»Was hast du an dem Abend, als er Sweetie durch den Zaun gestreichelt hat, gedacht? Was hast du davon gehalten, dass da hinten ein fremder Mann war?«

»Er hatte eine leise Stimme, hat ganz langsam geredet und klang weder freundlich noch unfreundlich. Mehr weiß ich nicht über ihn.«

»Und sonst hast du nicht mit ihm gesprochen?«

Sie starrt zu Boden. Ihre Hände auf dem Schoß sind zu Fäusten geballt. »Ich glaube, ich habe ›Ich heiße Suz‹ gesagt. ›Wohnen Sie hier?‹ Er antwortete, er sei nur zu Besuch. Mehr nicht. Ich habe Sweetie auf den Arm genommen und bin zurück zum Haus. Und beim Reingehen habe ich durch die Küchentür Gilly gesehen. Sie hat aus ihrem Zimmerfenster geschaut und beobachtet, wie ich Sweetie reingeholt habe. Sobald ich an der Tür war, ist sie mir entgegengelaufen, um mir Sweetie abzunehmen. Sie hat diesen Hund geliebt.« Mit zitternden Lippen blickt sie zu Boden. »Sie hätte sich schrecklich aufgeregt.«

»Waren die Vorhänge offen, als Gilly aus dem Fenster geschaut hat?«, fragt Marino.

Mrs. Paulsson starrt unbewegt zu Boden. Ihre Fäuste sind so verkrampft, dass ihr die Nägel in die Handflächen schneiden.

Als Marino ihr einen Blick zuwirft, sagt Scarpetta: »Schon gut, Mrs. Paulsson. Beruhigen Sie sich. Versuchen Sie, sich ein wenig zu entspannen. Wie lange vor Gillys Tod hat der Mann Sweetie durch den Zaun gestreichelt?«

Mrs. Paulsson wischt sich die Augen ab und kneift sie fest zu.

»Tage? Wochen? Monate?«

Sie hebt den Blick und sieht Scarpetta an. »Ich weiß nicht, warum Sie schon wieder hier sind. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie wegbleiben sollen.«

»Hier geht es um Gilly«, erwidert Scarpetta, die Mrs. Paulsson dazu zwingen will, sich mit etwas auseinander zu setzen, was sie lieber vergessen will. »Wir müssen alles über den Mann erfahren, den Sie durch den Zaun gesehen haben. Den Mann, der Sweetie gestreichelt hat.«

»Sie haben kein Recht, einfach wiederzukommen, obwohl ich es Ihnen verboten habe.«

»Tut mir Leid, dass Sie mich nicht hier haben wollen«, entgegnet Scarpetta, ohne sich vom Kamin wegzurühren. »Auch wenn Sie es mir nicht glauben, ich versuche Ihnen zu helfen. Wir alle wollen herausfinden, was Ihrer Tochter zugestoßen ist. Und Sweetie.«

»Nein«, erwidert Mrs. Paulsson, nun mit trockenen Augen, und wirft Scarpetta einen verschlagenen Blick zu. »Ich will, dass Sie jetzt gehen.« Sie verlangt nicht, dass Marino ebenfalls geht, und scheint nicht einmal zu bemerken, dass er links vom Sofa, keinen halben Meter entfernt von ihr, im Sessel sitzt. »Wenn nicht, rufe ich jemanden an. Die Polizei. Ich rufe die Polizei.«

Du willst nur mit ihm allein sein, denkt Scarpetta. Du willst wieder Spielchen spielen, weil das leichter ist, als sich der Realität zu stellen. »Erinnern Sie sich, was die Polizei aus Gillys Schlafzimmer mitgenommen hat?«, fragt sie. »Die Bettwäsche zum Beispiel. Es wurden eine ganze Menge Gegenstände ins Labor gebracht.«

»Ich will, dass Sie gehen«, wiederholt Mrs. Paulsson nur, bleibt reglos auf dem Sofa sitzen und starrt Scarpetta an.

»Wissenschaftler haben nach Spuren gesucht. Gillys sämtliche Bettwäsche, ihr Pyjama und alles andere, was die Polizei aus Ihrem Haus mitgenommen hat, wurde überprüft. Sie selbst wurde auch untersucht. Ich habe es getan«, spricht Scarpetta weiter und blickt Mrs. Paulsson unverwandt an. »Aber die Wissenschaftler haben keine Hundehaare gefunden. Kein einziges.«

Ein Gedanke huscht durch Mrs. Paulssons Blick wie ein Stichling durch seichtes braunes Wasser.

»Kein einziges Hundehaar. Nicht ein Haar von einem Basset«, fährt Scarpetta im selben nachdrücklichen und ruhigen Tonfall fort und blickt auf Mrs. Paulsson hinunter. »Sweetie ist fort, das stimmt. Und zwar weil sie nie existiert hat. Es gibt keinen Hund, und es hat auch nie einen gegeben.«

»Sag ihr, dass sie gehen soll«, meint Mrs. Paulsson zu Marino, ohne ihn anzusehen. »Sag ihr, sie soll aus meinem Haus verschwinden«, beharrt sie, als wäre er ihr Verbündeter oder ihr Mann. »Ihr Ärzte macht doch mit den Leuten, was ihr wollt«, wendet sie sich dann an Scarpetta. »Ihr macht mit ihnen, was ihr wollt.«

»Warum hast du gelogen und behauptet, dass du einen Hund hattest?«, will Marino wissen.

»Sweetie ist fort«, beharrt sie. »Fort.«

»Wir würden es wissen, wenn in deinem Haus je ein Hund gelebt hätte«, entgegnet er.

»Gilly hat immer öfter aus dem Fenster geschaut. Wegen Sweetie. Sie hat Sweetie gesucht, das Fenster aufgemacht und nach ihr gerufen«, antwortet Mrs. Paulsson und betrachtet ihre ineinander verkrampften Hände.

»Es hat nie ein Hündchen gegeben, richtig, Suz?«, hakt Marino nach.

»Sie hat wegen Sweetie ihr Fenster geöffnet. Wenn Sweetie im Garten war, hat Gilly ihr Fenster aufgemacht und gelacht und nach ihr gerufen. Der Riegel ist kaputtgegangen.« Langsam öffnet Mrs. Paulsson ihre Fäuste und mustert die halbmondförmigen Wunden, die ihre Nägel hinterlassen haben. »Ich hätte es reparieren sollen.«

44

Am nächsten Morgen um zehn schlendert Lucy im Raum umher, greift hier und da nach einer Zeitschrift und gibt sich ungeduldig und gelangweilt. Sie hofft, dass der Helikopterpilot, der neben dem Fernseher sitzt, endlich aufsteht und zu seinem Termin geht oder einen wichtigen Anruf bekommt und verschwindet. Dabei durchquert sie das Wohnzimmer des Hauses neben dem Krankenhauskomplex und bleibt vor einem Fenster mit alter, geschwungener Scheibe stehen, um die Barre Street und die historischen Gebäude dort zu betrachten. Die Touristen werden erst im Frühling in Charleston einfallen; im Moment ist draußen kaum jemand zu sehen.