»Das ist wunderbar!«, sagte sie leise mit vor Bewunderung gesenkter Stimme. »Es sieht genauso aus wie die Panoramawand in der Goldgräber-Grillbar in Luna City.«
»Das ist keine Panoramawand«, antwortete Smith. »Das ist die wirkliche Brücke.«
»Damals wusste man, wie man für die Ewigkeit baut, nicht wahr?«
»Das wusste man, auch wenn die Brücke andauernd ausgebessert werden muss. Ein halbes Dutzend Roboter ist ständig damit beschäftigt, die Eisenteile vor Korrosion zu bewahren. Wenn man die Pflege bedenkt, die sie bekommt, dann sollte sie noch Jahrhunderte stehen. Das heißt, es sei denn, jemand reißt sie vorher ab.«
»Oh, das würde man doch nicht tun!«
»Es hat Vorschläge gegeben, gerade das zu tun. So groß sie auch ist, die Brücke ist zu klein, als dass die größeren Schiffe unter ihr durchfahren könnten. Die Reedereien haben vorgeschlagen, sie durch einen Tunnel zu ersetzen.«
»Das wäre eine Tragödie!«, rief Amber impulsiv. Wie die meisten Lunarier, kannte sie die Erde nur von einer Reihe von Ansichten, die auf Panoramawänden dargestellt waren. Diese alte Brücke war eins ihrer Lieblingsbilder und stellte ihrer Meinung nach ein Bauwerk dar, das ebenso dauerhaft war wie die Pyramiden.
Halver Smith bemerkte den plötzlichen Ausdruck von Sorge auf ihrem Gesicht und lächelte. »Keine Angst, keiner wird sie anrühren, solange ich ein Wörtchen mitzureden habe. Aber wir sollten uns jetzt zu unserer Versammlung auf den Weg machen. Wär nicht gut, wenn der Boss zu seiner eigenen Besprechung zu spät käme.«
Smith führte sie zu dem Lift in der Mitte der Aussichtsplattform. Dreißig Sekunden später befand sie sich in der großen Rundhalle im Erdgeschoss. Der künstliche Hohlraum war mit poliertem Marmor ausgekleidet und wurde von dem Licht erhellt, das durch halb durchsichtige Fenster herabfiel. Kaum dass sie aus dem Lift getreten war, hörte sie jemanden ihren Namen rufen. Die Stimme kam ihr bekannt vor.
Sie drehte sich um und sah Tom Thorpe mit energischen Schritten die Rotunde durchqueren. Er trug einen großen Strauß roter Blumen im Arm. Mit einem Mal hatte Amber alles vergessen, was sie ihm hatte sagen wollen. Sie standen sich lange Sekunden in verlegenem Schweigen gegenüber.
»Hallo, Thomas«, sagte sie endlich.
»Hallo, du.«
»Sind die für mich?«
Er grinste und überreichte ihr die Blumen. »Sorry, beinahe hätte ich sie vergessen.«
Sie vergrub ihre Nase in den Blüten. »Hm, Rosen! Meine Lieblingsblumen.«
»Es ist schön, dich wiederzusehen.«
»Dich auch.«
»Wie wär’s, wenn wir nach der Besprechung zusammen zu Mittag essen, um uns gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen?«
»In Ordnung.«
Erst in diesem Moment schien Thorpe Halver Smith zu bemerken. »Äh, sie sind schon alle im Konferenzraum, Halver. Wir können loslegen.«
»Gut! Dann wollen wir mal. Wir haben noch einiges vor.« Ohne zurückzublicken, ging Smith auf eine der Doppeltüren zu, die die Peripherie der Rotunde durchbrachen.
Der Konferenzraum war kreisförmig, ebenso wie der doppelte Kreis kleiner Tische in seiner Mitte. Vor jedem Tisch standen zwei Stühle, und die Plätze waren mit farbig gekennzeichneten Namenskärtchen markiert – blau für die Expeditionsteilnehmer, weiß für die anderen. Thorpe führte Amber zu dem Sitz neben seinem. Nach einem Blick auf das blaue Schildchen mit ihrem Namen darauf gab Amber einen Kommentar über die Weitsicht desjenigen ab, der die Sitzordnung festgelegt hatte. Thorpe grinste bloß. Sie setzte sich und legte die Rosen vorsichtig vor sich ab.
Smith setzte sich ebenfalls. Bis er mehrere Notizzettel aus seiner Tasche hervorgezogen hatte, war das plötzliche Stühlescharren vorüber, und jeder saß an seinem Platz.
»Guten Morgen, meine Damen und Herren«, begann Smith mit lauter, klarer Stimme. »Wie die meisten von Ihnen bereits wissen, ich bin Halver Smith, Ihr Gastgeber. Sollte ich noch nicht die Gelegenheit dazu gehabt haben, dann möchte ich Sie jetzt in San Francisco und im Hauptsitz der Sierra Corporation willkommen heißen. Ein paar praktische Anmerkungen vorneweg: Für diese Besprechung ist eine ganze Woche angesetzt. Unser Ziel ist es, alle anstehenden Fragen hinsichtlich dieser Expedition zu klären, also zögern Sie nicht, sich zu melden, wenn Ihnen irgendetwas auf dem Herzen liegt. Erholungsräume befinden sich hinter dieser Tür rechts. Mir wurde außerdem gesagt, dass das Küchenpersonal in wenigen Minuten mit Kaffee, Tee, Brötchen und Obst eintreffen wird. Dies ist als Arbeitssitzung gedacht, deshalb zögern Sie nicht, aufzustehen und herumzulaufen, wenn Ihnen danach ist.«
Smith blickte wieder auf seine Notizen und fuhr fort: »Jetzt also ein paar Vorstellungen, ehe ich denjenigen das Wort überlasse, die die eigentliche Arbeit tun. Da ist zunächst einmal die Frau, die dies alles ermöglicht hat, Amber Elizabeth Hastings vom Farside-Observatorium, Luna. Amber, bitte erheben Sie sich und nehmen Sie unsere Reverenzen entgegen!«
Amber erhob sich in der applaudierenden Runde. Sie lächelte selbstbewusst, bedankte sich für den freundlichen Empfang, dann setzte sie sich rasch. Smith stellte als Nächsten Roland Jennings vor, den Generalkonsul der Republik Luna. Der Konsul hielt eine kurze Ansprache, in der er den Geist der Zusammenarbeit zwischen der Republik und SierraCorp betonte. Jennings stellte anschließend John Malvan vor, den Repräsentanten Lunas auf der Expedition. Der Revisor machte sich nicht die Mühe, aufzustehen. Er bedankte sich für die Vorstellung mit einer beiläufigen Handbewegung.
Als der Konsul geendet hatte, stellte Smith Tom Thorpe vor, Karin Olafson, den Kapitän der Admiral Farragut, sowie mehrere der Wissenschaftler, die an der Expedition teilnehmen würden. Der Chefwissenschaftler sollte Professor Chen Ling Tsu von der Universität Hongkong sein, ein Experte auf dem Gebiet der Asteroidenentstehung und ihrer Struktur. Sein Stellvertreter und Ambers neuer Vorgesetzter war Cragston Barnard von der Universität von Luna City. Barnards Gattin Cybil würde in der Funktion des Schiffsarztes ebenfalls dabei sein. Während Smith mit den Vorstellungen fortfuhr, wurde klar, dass die Expedition zwischen Angestellten der Sierra Corporation und Lunariern gerecht aufgeteilt werden würde. Smith beendete die Vorstellung mit den Worten: »Wir beginnen jetzt mit der offiziellen Besprechung. Ich erteile Thomas Thorpe das Wort!«
Thorpe erhob sich neben Amber. »Wir sind im Begriff, uns für einen heroischen Flug einzuschiffen, meine Damen und Herren«, begann er. »Das Unternehmen wird drei Jahre lang dauern. Unser erster Aufenthalt wird die Forschungsstation Callisto sein, wo wir die Passage des Kometen durch das Jupitersystem erwarten werden. Das wird unser letzter Kontakt mit der Zivilisation sein. Sollte nach Callisto etwas schiefgehen, wird uns keiner helfen. Vor welchen Problemen wir auch immer stehen werden, wir werden allein damit zurechtkommen müssen.
Wie Sie zweifellos bemerkt haben, besteht die Expedition zu gleichen Teilen aus Terrestriern und Lunariern. In dieser Verschiedenheit liegt unsere größte Stärke. Wir können es nicht zulassen, dass sich diese Stärke durch interplanetarische Zwistigkeiten, Parteilichkeit oder unterschwellig betriebene Erde/Mond-Konfrontationspolitik in Schwäche verwandelt. Ich bitte deshalb jeden von Ihnen darum, gleich welche Loyalitäten Sie zu dieser Expedition mitbringen, diese auf Zeit auszusetzen. Für die nächsten drei Jahre müssen Sie sich als Bürger des Weltraums und der Admiral Farragut betrachten. Damit meine ich nicht, dass Bürger Malvan nicht seinen Vorgesetzten auf Luna berichten dürfte, oder ich den meinigen auf der Erde. Was ich meine, ist, dass Sie die Belange der Expedition an erste Stelle setzen müssen. Fühlt sich jemand der Anwesenden außerstande, diese Regeln zu befolgen?«