Ich sah ihm nach, wie er sich mit festen, selbstsicheren Schritten entfernte, die Schultern durchgedrückt und in seiner ganzen Erscheinung der Inbegriff eines Kommandeurs.
»Ihr habt eine komische Vorstellung von Disziplin«, sagte ich zu Schnee. »Es hätte nicht viel gefehlt, und ihr beide hättet euch geprügelt.«
»Jetzt spricht doch nichts dagegen«, erwiderte Schnee kichernd. »Schließlich ist der Alarm aufgehoben.«
»Und sonst?«
Der entspannte Ausdruck kroch kurz vom Gesicht des Piloten. »Sonst – eine Ladung vor die Birne! Und zwar umgehend. Du stellst Fragen, Pjotr! Und komm bloß nicht auf die Idee, dich so zu verhalten, wenn sich die Basis im Verteidigungszustand befindet!«
»Danke«, sagte ich. Mich beeindruckte die Warnung nicht gerade. Nach Disziplin sah das alles nicht aus, nach Stand- oder Militärgericht schon gar nicht. »Sag mir aber Bescheid, wenn es so weit ist!«
»Das wirst du dann schon merken«, erwiderte Schnee gickelnd. »Komm jetzt …«
Der menschenleere Stützpunkt irritierte mich nach wie vor. Wir gelangten zu einem klobigen, einstöckigen Haus und gingen hinein. Neugierig sah ich mich um. Bei den Geometern hatte ich es nicht genießen können, einen fremden Alltag zu studieren, da mein Gedächtnis ja ausgeschaltet gewesen war und ich folglich nichts zum Vergleich hatte heranziehen können.
Hier war es allerdings ebenfalls recht schwierig, sich für etwas zu begeistern. Es ähnelte den Gegebenheiten auf der Erde viel zu sehr, ja, mehr noch: den Gegebenheiten zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Eine Mischung aus Garnisonsstadt und gemütlichem Hotel.
Gleich hinterm Eingang lag der Empfang. Es gab einen Tresen, hinter dem eigentlich der Diensthabende zu finden sein sollte. Über dem Tresen war eine energetische Barriere installiert, von der ein schwaches Flimmern in der Luft zeugte. Den Eingang selbst bewachte jedoch niemand.
»Nur wenn Alarm ist«, klärte mich Schnee auf, dem mein Blick nicht entgangen war. »Die strengen Vorschriften gelten nur für den Fall militärischer Handlungen. Ist das bei euch etwa anders?«
»Ja.«
»Macht nichts. Du wirst dich schnell daran gewöhnen …«
Das hatte ich eigentlich nicht vor – was ich natürlich für mich behielt.
»Gehen wir.«
Wir kamen an einer Halle vorbei – mit ihren Ledersesseln, den kleinen Tischen und dem großen Bildschirm an der Wand hätte sie einem Hotel für einfache Ansprüche durchaus Ehre gemacht – und erreichten eine Treppe. Warum bloß alle Rassen der Galaxis so auf Bildschirme versessen waren? Schließlich war die Technologie, mit der sich Darstellungen von guter Qualität direkt in die Luft projizieren ließen, doch ganz einfach. Selbst auf der Erde war sie ohne Hilfe der Außerirdischen entwickelt worden. Aufmerksam suchte ich die Wände nach einem Bild ab. Die fremde Kultur ist der sicherste Weg zum Verständnis.
Ein Bild entdeckte ich. Das Meer – oder doch nur der Sumpf? – im Mondlicht, ein silbriger Streifen auf dem Wasser, in der Luft ein Vogel. Solche Kunstwerke hatte ich tonnenweise zu den Hyxoiden gebracht. Mist. Diese Kultur war unserer einfach viel zu nah!
Mit jedem Schritt wurde mir unbehaglicher. Und zwar nicht, weil mir die Ausstattung völlig fremd gewesen wäre – sondern weil gerade das Gegenteil der Fall war. Hier gab es nichts Außergewöhnliches. Von dem Kraftfeld vor dem leeren Posten vielleicht einmal abgesehen … Allerdings hätte mich eine solche Barriere nach den Paralysatoren, die sich die Schlauköpfe vom FSB hatten einfallen lassen, auch im Sternenstädtchen nicht sonderlich überrascht.
Die Kulturen ähnelten sich?
Das war noch milde ausgedrückt!
Da waren ja die Unterschiede zum Alltag der Geometer noch größer gewesen. Dabei war der Schatten eine Zivilisation, die Hunderte von Planeten mit einem Netz aus Hyperraumtoren verband. Eine Zivilisation, die die kleinen, aber bissigen Geometer völlig nebenbei in die Flucht geschlagen hatte. Denn hätte es zwischen ihnen und den Geometern einen ernsten Konflikt gegeben, hätten sie mich nicht derart unbekümmert und sorglos aufgenommen.
Da war ich also auf ihrem Planeten. In einer Welt, in der sich Papierschiffchen mit der Geschwindigkeit von Rennwagen bewegten. Auf einem Planeten, auf dem die Hälfte der Bevölkerung die Natur an sich anpasst, während die andere Hälfte sich an die Natur anpasst. Nicht einmal mehr Neugier weckte hier das Auftreten eines Fremden. Und besagter Fremder lernte die hiesige Sprache, ohne es selbst auch nur zu merken.
Und nichts – absolut nichts – sprang ins Auge. Wände, Fenster, Türen. Übrigens Türen mit Angeln. Und die quietschten.
Im ersten Stock gab es eine weitere Halle. Auch sie bot die genormte Gemütlichkeit mit Sesseln, kleinen Tischen und einem ausgeschalteten Bildschirm. Ich blieb stehen und wartete.
»Kommt dir nicht alles bekannt vor?«, fragte Schnee.
»Ja. Fast alles. Darauf … hatte ich gar nicht zu hoffen gewagt.«
»Ich mag’s auch lieber, wenn’s immer gleich aussieht«, teilte Schnee mir mit.
Anscheinend unterhielten wir uns, ohne uns zu verstehen. Etwas in ihrem Leben führte dazu, dass mein Auftauchen nicht nur ein alltägliches Vorkommnis war, sondern nahezu geplant wirkte. Und dass ich auf ihrer Seite kämpfen und mit der fremden Technik zurechtkommen würde, schien von vornherein außer Frage zu stehen.
»Ich gebe dir Laids Zimmer«, sagte Schnee.
»Hat er denn nichts dagegen?«
»Nicht mehr. Er ist vor zwei Tagen über feindlichem Gebiet abgeschossen worden. Von den Satelliten aus wurde das Feuer gesichtet … Er ist zusammen mit seinem Schiff verbrannt, er ist nicht mehr rausgekommen. Nach einer solchen Sache kommst du nicht zurück.«
Schnee sprach in beiläufigem, gelangweiltem Ton. »Ach ja, da hatte man Laid halt abgeschossen und er war verbrannt!«
Ich sah ihn mit der schwachen Hoffnung an, es handle sich lediglich um eine Form von schwarzem Humor. Aber nein, damit macht man keine Scherze. Schnee meinte es völlig ernst.
»Wenn du in feindlichem Gebiet geschnappt wirst, ist es besser, du machst Schluss«, riet er mir. »Die Grünen machen sowieso keine Gefangenen.«
»Und ihr?«
»Wir schon.« Schnee lächelte. Allerdings gefiel mir dieses Lächeln nicht. »Wir gehen später im Gefängnis vorbei. Da sitzt eine von diesen Kröten. Ein Anblick, der sich lohnt. Außerdem muss man den Feind von Angesicht zu Angesicht kennen.«
Es war, als hätte ich es mit zwei verschiedenen Menschen zu tun. Der eine stritt sich mit dem Kommandanten und führte sich wie ein großspuriger Boy-Scout in einem Geländespiel auf. Der andere war kalt und blutdürstig.
»Lass uns jetzt erst mal dein Zimmer anschauen.«
Die Tür zu dem Zimmer, in dem früher der mir unbekannte Laid gelebt hatte, stand halb offen. Zeremonien mit fremden Räumlichkeiten, wie sie bei den Geometern üblich waren, gab es hier nicht. Schnee trat als Erster ein und sah sich um, als wohne er hier.
»Seine Sachen kannst du rausschmeißen. Oder behalten, wenn sie dir gefallen.«
Ich sah mich wortlos in dem mir zugewiesenen Raum um. Was für ein Chaos. Auch hier war die Einrichtung völlig normal, die Wände von neutralem Hellgrau, an der Decke Standardlampen, Holzschränke, zwei Sessel, ein breites Bett, das mich unwillkürlich an Champagner, Frauen und billige deutsche Pornofilme denken ließ. Vielleicht wegen der Photographien an den Wänden, halb nackte Schönheiten, meist rotblond. Unter ihnen befand sich auch ein Mann, in einem schneeweißen Anzug, der seine gewaltigen Muskeln jedoch nicht verbarg.
»Das ist Laid. Wie er leibt und lebt«, sagte Schnee grinsend. »Ich habe ihm immer gesagt, er donnert sich zu sehr auf.«
Er ging zur Wand und riss die Photos kurzerhand ab.
»Werden denn seine Freunde nichts dagegen haben?«, fragte ich, da ich mich noch immer unbehaglich fühlte.