Was für ein Wahnsinn.
Ein schwarzer Brunnen, in den endlos fallen konnte …
Was war überhaupt echt in der Welt des Schattens? Wer war ein Mensch, wer eine Marionette? Ob ich vielleicht unter einem schwarzen Sternenhimmel auf kalten Steinen lag und man mir einen Film zeigte, um neugierig meine Reaktion zu studieren? Befand ich mich am Ende bei den Geometern in Gefangenschaft und saß da, an einen Laborsessel gefesselt, während die weisen Ausbilder entschieden, was sie mit mir anstellen wollten: mich freilassen, mich in ein Lager stecken oder mich töten?
Lass das, Pjotr. Ich kann deine Hypothesen nicht widerlegen, aber das ist ein tödlicher Weg. Mir sind zwei Rassen bekannt, die umgekommen sind, weil sie den Glauben an die Realität des Universums verloren hatten.
Mir steckte ein Kloß im Hals, und ich schluckte. Mein Herz hämmerte, wollte mir aus der Brust springen.
Der Cualcua hatte recht. Der menschliche Verstand ist nicht das beste Instrument, um über Objektivität und Subjektivität der Welt zu urteilen.
Dari löste den Blick von mir und fing an herumzuzappeln. Ich sah zum Haus hinüber und erblickte Kelos.
Mir blieb die Spucke weg. Der alte Kämpfer hatte seine Uniform aufbewahrt!
Entweder war das Gespräch mit seiner Frau zwar inhaltsschwer, aber mehr als kurz gewesen, oder er hatte sich währenddessen umgezogen.
Sein Anzug, aus durchscheinendem, in der Sonne funkelndem Stoff gewebt, sah aus wie eine Membran aus zusammengeschmiedeten Brillanten – falls dergleichen möglich wäre. Die geschliffenen Flächen flammten bei jeder Bewegung auf. Unwillkürlich wandte ich den Blick ab.
»Einen zweiten Anzug dieser Art habe ich nicht. Leider.«
»Geht der Name Kristallene Allianz auf diese Uniform zurück?«
»Nein, Pjotr. Der Kristall war das Symbol der Reinheit unseres Vorhabens.«
Dari betrachtete seinen Vater mit unverhohlener Neugier. Anscheinend hatte er ihn schon einmal in diesem Aufzug gesehen – wenn auch noch nicht oft.
»Will Rada nicht noch herauskommen, um mich mit einem tadelnden Blick zu bedenken?«, erkundigte ich mich.
Kelos schüttelte den Kopf. »Du bist auch nur ein Spielzeug des Schattens, genau wie wir. Mach dir also keine Sorgen. Niemand wirft dir irgendetwas vor.«
Er trat an den Jungen heran und zerzauste ihm kurz das Haar. »Mach’s gut, mein Junge. Ihr wartet auf mich, ja?«
Vielleicht jagte das Ergebnis seiner Bitte Dari jetzt doch Angst ein. Er sah zu mir herüber, als hoffte er, ich würde das Hilfsangebot noch ablehnen.
Verzeih, mein Junge, magst du nun echt sein oder nicht. Aber momentan bin ich nicht bereit, mich selbst zu opfern …
»Kommst du bald wieder, Papa?«
»Ich komme wieder. Wenn ihr auf mich wartet.«
Wie hatte es ein Dichter ausgedrückt?
Und keinen Menschen konnte retten
die Hand, von ferne Glück verheißend,
und keinen Menschen konnte retten
das fern versprochne Wiedersehen.
Auch ich hatte der Erde versprochen zurückzukehren. Aber was wollte ich machen, wenn es nichts mehr gab, wohin ich zurückkehren konnte?
»Steig ein, Pjotr!«
Der Flyer schwebte einen halben Meter über der Erde. Eine Gangway fehlte. Ich sprang auf den silbrigen Ring hoch und starrte reglos ins Innere des Schiffs.
Es gab weder Armaturenbretter noch Sitze. Tiefe Dunkelheit, schwarze Dunkelheit, über die die Sonne keine Macht hatte. Eine beinah körperliche Dunkelheit, fast wie ein Bausch geschwärzter Watte. Nur dass es solche Tinte nirgends auf der Welt gab.
»Setz dich!«
Gut, der Junge hatte schließlich auch keine Angst gehabt, sich in das Ding zu setzen …
Ich machte einen Schritt. Als würde ich in kaltes Wasser hineinwaten – nur dass sich diese Dunkelheit als überraschend warm erwies. Eine weiche und elastische, eine angenehme Dunkelheit. Als ich ein wenig in die Knie ging, spürte ich, wie mein Körper auf eine unsichtbare Stütze traf. Ich musste nur in der Bewegung innehalten, und der Raum um mich herum gerann und schuf mir ein erstaunlich bequemes Ambiente.
»Steig ganz ein!«, verlangte Kelos. Er hatte den Grund meines Zögerns endlich begriffen. »Das ist nur der Schutzschild. Keine Angst!«
Ich tauchte völlig in die Dunkelheit ein.
Oh!
Im Innern war es gar nicht dunkel. Der Flyer schien völlig durchsichtig zu sein, nur am Boden sah es etwas dunkler aus, als schaue ich durch Rauchglas. Mit einiger Mühe machte ich den silbrigen Ring der Maschine aus, vermutlich das einzige materielle Element. Nichts schränkte die Bewegungen ein, gleichzeitig erlaubte es der Raum, in jeder Position zu verharren, liegend, sitzend oder mit dem Kopf nach unten hängend.
Es war ungewohnt, aber bequem. Aber verdammt noch mal, unsere Formsessel waren auch nicht unbequem!
Kelos stand immer noch neben Dari, sagte ihm etwas, zärtlich und zugleich ernst, ermunterte ihn, überzeugte ihn …
Wie seltsam. Diejenigen, für die es schon zu spät war, noch ein Mensch zu sein, verhielten sich weitaus besser als die meisten Menschen. Konnten wir womöglich nur jenseits dessen, was Menschen zugedacht war, nur, wenn wir uns schon voller Panik zurückwandten, schätzen, was uns einst möglich gewesen war, was wir da aber gar nicht gebraucht hatten.
Ging es denn wirklich nicht anders? Musste man sich unbedingt mit lebendigen Ankern an die Menschheit binden?
Und was gewann, was verlor Kelos am Ende wirklich?
In den Genuss welcher Freuden würde er kommen, wenn er seinen menschlichen Körper hinter sich ließ? Waren alle unsere Gefühle, unsere Liebe und Freundschaft womöglich nur ein jämmerlicher Schatten dessen, was wir eigentlich erreichen konnten? Würde Kelos selbst ungeachtet eines ewigen Lebens jene Jahre und Minuten bedauern, die er damit verschwendet hatte, einen Menschen zu spielen?
Ich wusste es nicht. Und ich wollte es nicht wissen. Kelos tätschelte Dari die Schulter und kam zum Flyer.
Der Himmel. Der unendliche Himmel.
Wir waren schon so hoch gestiegen, dass der Tag verblasste. Die Sonne loderte im Zenit, konnte die Sterne aber nicht überstrahlen. Die gelbe Scheibe, die bunten Funken … Gibt es im Schatten Welten für Dichter und Maler? Welten, in denen orangefarbener Regen niedergeht, grüne Blitze zucken, bunte, mit den Brillanten der Sterne bestäubte Sonnen einen Reigen tanzen? Gibt es Welten reiner Schönheit, wahnsinniger Inspiration, leidenschaftlicher Verehrung, übermächtigen Grams und heiliger Liebe? Selbstverständlich. Genauso wie Welten der ewigen Kriege, wie Planeten, die als Gefängnisse dienen, wie Heimstätten blutiger Tyrannen und religiöser Fanatiker, wie Welten, die voll Schmerz und Sturheit eine menschliche Welt darzustellen versuchen …
Der Schatten.
Die Bezeichnung geht nicht auf den finsteren Irrstern zurück. Eher auf jenen Schatten, der in jeder Seele lebt. Der Schatten schenkt jedem die Freiheit der Selbstverwirklichung, da hatte das Informationsnetz nicht gelogen. Tritt in das Tor ein – und wenn du wirklich fortgehen willst, gelingt dir das auch. Du kommst an den Ort, wo deine Träume Wirklichkeit geworden sind, wo du langersehnte Freunde und Feinde findest …
»Wohin fliegen wir, Kelos?«
Er lag halb aufgerichtet in der Luft, schaute nach oben, zum Himmel hinauf, der bereits schwarz war, zu jenem Eckchen in der Unendlichkeit, in dem Kelos’ Planet schlummerte.
»Zur Station der Handelsliga.«
»Ich habe gedacht zu einem Tor …«
»Nein, Pjotr. Zu einem Tor kann man immer zu Fuß gehen … Ich hoffe wirklich darauf, wieder nach Hause zurückzukehren. Aber dazu muss ich die Tore meiden.«
Als Kelos die Arme ausbreitete, funkelte die brillantene Membran.
»Außerdem darf ich nicht sterben, Pjotr. Denn ich werde kaum als Mensch auferstehen. Das verstehst du doch, oder?«