»Und nun kannst du sie nicht vergessen? Du kannst dem Schatten nicht verzeihen?«
»Nein. Ich habe sie vor langer Zeit vergessen, Pjotr. Ich erinnere mich kaum noch an ihr Gesicht. Rada und mich verbinden hundert Mal mehr Erinnerungen, mehr Freuden und Schmerzen als diesen Jungen und dieses Mädchen. Aber etwas anderes, das kann ich nicht verzeihen, Pjotr. Jenen Augenblick … nachdem ich zum ersten Mal durch ein Tor gegangen war. Der Geruch des Meers, das Branden der Wellen, der glutrote Himmel … die Sonne ging gerade unter … diesen Augenblick der Euphorie … diesen kurzen Augenblick, als alles vor uns lag und wir zu zweit waren. Aber dann sah ich auf meine Hand, die leer und zur Faust geballt war. Der Sonnenuntergang erlosch, das Meer starb, der Junge schrie vor Schmerz auf. Das … das kann ich nicht verzeihen, Pjotr.«
»Der Schatten bringt kein Glück.«
»Der Schatten gibt dir Freiheit. Aber was man mit dieser Freiheit anstellt, das entscheidet jeder selbst. Wenn dein Glück aus der Unfreiheit von jemand anderem gemacht ist, dann hast du eben Pech gehabt.«
»Aber er bringt kein Glück.«
»Richtig. Wenn du eine ideale Welt gesucht hast, Pjotr, die euch hilft, die Wohlstand bringt, Sicherheit und Glück, dann hast du dich geirrt. Zumindest in einem Punkt.«
»Ich habe nur Freiheit gesucht, Kelos.«
»Was willst du dann? Die hast du gefunden. Aber ob sie dir viel Freude bringt?«
»Viel nicht, nein. Und jetzt weiß ich nicht mehr, was ich suchen soll.«
Wir schwiegen beide. Der Flyer flog über den Planeten, um uns herum funkelten die Sterne. Die fernen, schönen, freien, von einer einzigen Kette verbundenen Sterne. Was sollte man wählen, wenn keine Entscheidung die richtige war?
Den strengen Traum der Geometer?
Den bösen Pragmatismus des Konklaves?
Die gleichgültige Laissez-faire-Haltung des Schattens?
Wenn es nur zwei Alternativen gibt, kann man immer auf eine dritte hoffen.
Aber nur in Märchen besiegt der dritte Sohn den Drachen, stellt sich der dritte Wunsch als der richtige heraus.
In den Welten der Unfreiheit, in den Welten der scharf beschnittenen Rechte, in den Welten der zügellosen Anarchie sind die Menschen immer und überall zum Leiden verdammt. Sie sind verdammt zu verlieren, zu suchen und sich zu irren. Schmerz zuzufügen und Qualen auszuhalten. Ich jedoch brauche etwas, das mir niemand zu geben vermag. Ich brauche ein Paradies – und das Paradies gibt es einfach nicht.
»Du hast es schwer«, sagte Kelos. »Das ist mir klar. Und trotzdem rate ich dir … und es ist der einzige Rat, den ich dir geben kann … akzeptiere den Schatten. Er wird dir keine Steine in den Weg legen. Wenn ihr glücklich werden wollt, dann werdet ihr es auch werden. Es ist besser, es ist unsagbar viel besser, als für immer zu sterben.«
»Das hat mein Großvater auch gesagt … nachdem er im Körper eines Reptiloiden gelandet war. Seinen Rat könnte ich jetzt brauchen.«
»Dann geh das Risiko ein! Betritt ein Tor! Wenn du deinen Großvater wirklich finden willst …«
»Woher soll ich wissen, was ich wirklich will?«
»Oh! Du wirst erwachsen, mein Junge. Du solltest übrigens diesen grünen Stern vor uns im Auge behalten …«
Ich nickte. Wenn Kelos glaubte, ich könnte Sterne nicht von Raumstationen unterscheiden …
»Bis zu ihm sind es noch rund hundert Kilometer«, bemerkte ich.
»Etwa zehntausend.«
Mein Gott, wie konnte ich mich so geirrt haben?!
»Hat er etwa vier Kilometer im Durchmesser?«
»Ja, sofern das Wort ›Durchmesser‹ überhaupt zutrifft …«
Es wäre in der Tat unangemessen, bei dieser Station von einem Durchmesser zu sprechen. Sie erinnerte eher an eine Figur aus einem Lehrbuch der Stereometrie, vielleicht auch an das Skelett eines Seeigels. Aus dem vielkantigen Zentrum der Station ragten nämlich Stacheln heraus, die an der Grundfläche hundert Meter dick waren. Die mattgrüne Verkleidung war höckerig und uneben.
»Sie hat fast etwas von einem Lebewesen«, bemerkte ich.
»Das ist ein Tribut an die Tradition. Die Liga hat es eigentlich seit langer Zeit aufgegeben, Bioschiffe zu züchten.«
Ich verschluckte mich. Ob ich mir wohl je etwas ausdenken könnte, was es im Schatten nicht schon gab?
Und ob mir der Schatten je etwas zeigen konnte, was ich mir nicht ausdenken konnte?
Der Flyer schwebte langsam durch die Stacheln. Es gab nichts, was sich mit einer Schleuse vergleichen ließ, im Gegenteil, uns kam ein breiter Auswuchs entgegen.
»Es sind keine schlechten Menschen«, sagte Kelos. »Auch wenn nicht alle von ihnen Menschen sind …«
»Warum ist die Station so groß?« Ich konnte den Blick nicht von dem Gebilde wenden, dem wir uns näherten. Gleich würden wir aufgespießt … »Handelt ihr viel mit ihnen?«
»Du hast Ideen. Unsere Welt stellt kaum etwas her, das von Interesse ist. Die Stationen der Liga sehen alle gleich aus, unabhängig davon, wie wichtig ein Planet ist. Es hat sich gezeigt, dass das günstiger ist, als wenn sie die Stationen der Welten, die plötzlich wichtig für die Liga werden, umbauen.«
Wir glitten in den Fangarm hinein, den die Station nach uns ausgestreckt hatte. Eben noch war vor uns etwas Hartes gewesen, doch schon im nächsten Moment waren wir in der zylindrischen, hell beleuchteten Schleuse.
»Jetzt kommt das Interessanteste«, kündigte Kelos an. »Versuche, dich nicht über ihren Anblick, ihr Auftreten oder ihre Fragen zu wundern. Unser Planet hat dich durch nichts überrascht, aber du bist durch ein Tor auf ihn gelangt. Das hier ist jedoch eine Welt, die nicht für dich bestimmt war.«
Kelos streckte sich geschmeidig nach oben und tauchte aus dem Kraftschild des Flyers auf. Ich folgte ihm. Oben war das Schiff bereits offen. Wir standen in der Schleuse, einer ganz normalen Schleuse, die sich niemand anders hätte ausdenken können.
Worüber sollte ich mich hier wundern?
Wenn Kelos glaubte, ich wäre noch dazu in der Lage, dann irrte er sich. Von mir aus könnten Luke Skywalker und Darth Vader hereinkommen oder ein Paar lustiger Teufel angerannt kommen und, sich an den Händen haltend, zu tanzen anfangen, oder eine mit Waffen behängte Metallspinne könnte hereinkriechen – ich würde mich nicht wundern. Schließlich war das der Schatten.
Die Wand wackelte und wölbte sich. Durch sie hindurch trat eine menschliche Gestalt ein. Das war ja schon mal ein guter Anfang.
Eine junge, unattraktive Frau in einem weißen geschuppten Overall, eine Waffe, eine Art kurzläufiger Maschinenpistole, im Anschlag.
»Ich begrüße euch auf der Station der Liga«, sagte sie sachlich. »Nennt eure Namen.«
Ich wunderte mich nicht. Schließlich hatte ich versprochen, mich nicht zu wundern. »Soll ich dir auch noch meinen Ausweis zeigen, Mascha?«
Der Blick der Frau hakte sich an meinem Gesicht fest.
»Was ist?«, wollte ich wissen. »Müssen wir uns noch mal vorstellen?«
»Pjotr … Petja …«
Ihre Lippen zitterten. Die MPi entglitt ihr und schlug hart auf dem Boden auf.
Kelos rührte sich nicht von der Stelle, als wir uns umarmten. Anscheinend wartete er auf eine Erklärung.
Mascha hielt mich fest umfasst und weinte. Ich konnte es nicht glauben! Mascha Klimenko, Majorin des Geheimdienstes, vor Kurzem noch meine Gefängniswärterin, lag mir in den Armen und weinte. He, Mascha, hast du das Halsband mit dem Sprengstoff schon vergessen?
Ich erinnere mich nicht, wie ich selbst in Tränen ausbrach.
Es war ein Wunder, unser Treffen in Welten, in denen Milliarden und Abermilliarden von Lebewesen existieren. Aber zufällige Wunder gibt es nicht.
Einer von uns beiden hatte den anderen finden wollen. Und wahrscheinlich war nicht ich das gewesen. Mir war es nämlich völlig egal, ob ich Mascha wiedersah oder ob sie für immer durch den Schatten irrte. Sollte es ihr wirklich so wichtig gewesen sein, mich wiederzusehen? Wichtiger als Kelos, der seine junge Freundin in Tausenden von Welten gesucht hatte?