»Genau deshalb«, erklärte Kelos triumphierend, »glaube ich, dass ihr den Schatten akzeptieren solltet. Ein System des Ortswechsels, das man selbst nicht kontrollieren kann, birgt jede Menge Nachteile. Dieses System hier wird sich jedoch bestimmt weiterentwickeln, und dann braucht niemand mehr die Tore zu fürchten. Wenn du auf einen Hyperverstand baust oder Unsterblichkeit erlangen willst, dann gehst du durch ein Tor. Aber wenn du von einer Welt in eine andere reisen und dabei deinen bewussten Wünschen folgen willst, dann solltest du dich an die Handelsliga halten.«
»Aber man könnte ihr System doch schon jetzt als Transportmittel einsetzen!«, rief ich, während ich von dem Trichter zurücktrat. »Oder etwa nicht? Man brauchte doch nur zu einer Station zu fliegen, hierherzukommen und könnte dann von diesem Planeten aus zu einer anderen Station gelangen …«
»Die Liga sieht solche Reisen bisher nicht gern«, sagte Mascha. »Anscheinend hat sie Angst vor den Konsequenzen. Was ist – wollen wir weiter?«
Wir hielten auf eines der Häuser zu, einen kleinen eingeschossigen Ziegelbau, komfortabel, aber einfach, wie das Haus auf der Datscha eines Menschen mit mittlerem Einkommen.
»Wir dürfen hier wohnen«, erklärte Mascha. »Um uns zu akklimatisieren, sie selbst wohnen nämlich lieber in den Stationen …«
Das Haus umgab ein kleiner Garten mit blühenden Bäumen, die auf den ersten Blick an Apfelbäume erinnerten. Aus dem Haus erklangen Stimmen.
»Andrej Valentinowitsch ist mal wieder richtig in Fahrt«, sagte Mascha leise. »Du … geh nur rein! Soll er ruhig mal eine Überraschung erleben!«
Sie nickte Kelos zu, der daraufhin gehorsam stehen blieb.
Eine Überraschung … Ich hatte meine Überraschung eigentlich schon erlebt, als ich von den Geometern zurückgekehrt war.
Du bist allerdings wirklich menschlicher geworden, Mascha! Als ob von der tatkräftigen, aber unangenehmen Frau, die ich vor zwei Wochen zum ersten Mal gesehen hatte – und mich weiß Gott nicht in sie verliebt –, die Hülle abgefallen wäre. Schicht für Schicht abgeblättert … die Kälte, die Unbarmherzigkeit, der Ernst … Wenn wir dich jetzt noch aus dem FSB rauskriegen … obwohl ja behauptet wird, die ließen niemals jemanden gehen …
Sie brauchte einen netten Kerl. Keinen Ehemann, sondern einen richtigen Kerl. Damit sie lernt, sich an eine fremde Schulter zu lehnen, zu kokettieren, zu flirten, Teller zu zerschmeißen … und schließlich auch Seifenopern zu sehen.
Langsam umrundete ich das Haus. Ich musste nirgendwo hinstürzen, ein paar Minuten würden weder über das Schicksal der Erde noch über das meines Großvaters entscheiden.
»… im Unterbewusstsein?«, drang eine bekannte Stimme an mein Ohr. »Humbug! Und dabei geht es nicht darum, ob ein Mensch die Wahl seines Schicksals seinem Unterbewusstsein überlassen darf! Denn mit gewissen Einschränkungen wird er auch das kontrollieren können. Insofern werden die widerwärtigsten eurer Welten eingehen oder irgendwann isoliert dastehen. Nein, allein die Möglichkeit einer uneingeschränkten Wahl ist eine Falle!«
Ich lehnte mich gegen die Hausmauer und schloss die Augen. Na siehst du, Großpapa, es ist alles in Ordnung. Du suchst noch immer nach deinen Idealen. Wir sind wieder zusammen. Daran hat uns kein Schatten hindern können.
»Die Wahl wird ja auch nicht uneingeschränkt sein.« Eine harte, machtvolle Stimme, die allerdings ein wenig verlegen klang. »Andrej, Sie verwechseln abermals die Begriffe! Wir werden nicht alle Planeten des Schattens miteinander verbinden. Nur die, die …«
»Ihr wollt wieder einen Filter einbauen? Ihr Optimisten! Dann werden eure Tunnel eingehen. Entweder bietet ihr einen vollständigen, adäquaten Ersatz für die Tore an, der bis hin zur Zahl der Zugänge auf jedem Planeten reicht, oder ihr könnt euch das Ganze sowieso abschminken.«
Ich trat einen Schritt vor. Da sah ich den Reptiloiden. Der Zähler saß da, die lange Zunge hing ihm heraus, und er hörte aufmerksam zu. Irgendwann drehte er mir das dreieckige Gesicht zu.
»Ich wünsche euch von ganzem Herzen Erfolg! Ich bezweifle nicht, dass es prinzipiell eine Alternative gibt … aber bisher … sehe ich keine! Tut mir leid, aber ich sehe sie einfach nicht!«
Nein!
Der Zähler schwieg doch!
Das Maul des Reptiloiden verzog sich zu einem Lächeln.
Ich stürzte vor.
Ein Korbtisch, darauf eine glasklare Karaffe mit dunkelrotem Wein. Zwei Korbsessel. In einem saß, nach vorn gebeugt und die Hand in linkischer Weise fest um das leere Glas geschlossen, ein mir unbekannter, grauhaariger Mann. In dem anderen flegelte sich ein Mann, der vor der nächsten Tirade am Wein nippte und mir vage bekannt vorkam …
Eine Szene aus einem Stummfilm.
Mein ehemaliger Opa ließ das Glas fallen. Er sprang auf, ohne sich darum zu scheren, dass er sich Wein übers Hemd geschüttet hatte. Er lächelte so verlegen, als hätte ich ihn in seinem Zimmer erwischt, wie er eine Pfeife schmaucht und sich ein Gläschen Kognak gönnt.
»Großvater …«, sagte ich mit hölzerner Stimme. »Wein ist doch schädlich für dich.«
»Jetzt nicht mehr.«
Vierzig Jahre war er jetzt, höchstens. Nicht einmal mein Vater könnte er noch sein, vom Großvater ganz zu schweigen. So kannte ich ihn bisher nur von jenen alten Photos, die er ungern hervorholte.
»Petja …«
Ich brachte es nicht über mich, ihn zu umarmen, denn es war fast, als stünde vor mir ein Fremder. Die vertrauten Züge waren völlig entstellt – wenn auch nur durch die Jugend. Wäre mein Großvater in meiner Kindheit so gewesen, wäre ich wahrscheinlich ganz anders aufgewachsen. Aber jetzt war es zu spät. Alles kommt immer zu spät.
Mein Großvater machte ein paar Schritte auf mich zu.
»Pit … ich bin doch immer noch der Alte …«, sagte er leise. »Pit, stell dir einfach vor, dass der alte Tattergreis eine Schönheitsoperation hat machen lassen.«
Herr im Himmel! Ich führte mich ja schon auf wie Mascha! Was hatte ich ihr über Form und Inhalt gesagt? Darüber, dass die Seele wichtiger ist als der Körper? Sollte das also alles nur leeres Geschwätz gewesen sein? War ich bereit, meinen Großvater als alten Mann oder im Körper eines Aliens zu akzeptieren – aber nicht so, gesund, stark und energiegeladen? War ich eifersüchtig darauf, dass er seine Jugend zurückgewonnen hatte? Nun gut, nicht seine Jugend, sondern sein Mannesalter? Sorgte ich mich um meine Unabhängigkeit? Denn dieser Chrumow würde sich mit neuer Energie an meine Erziehung machen. Sehnte ich mich nach dem alten, ans Haus gebundenen und, wenn ich ehrlich sein wollte, hilflosen Großvater? Was sprach da aus mir? Welche Teufelchen tanzten jetzt in meinem Unterbewusstsein?
»Großpapa, diesmal hast du mich wirklich überrascht …«, sagte ich. »Aber warum machst du nur halbe Sachen? Fünfundzwanzig … das wäre ein noch besseres Alter …«
Mein Großvater kicherte.
»Weißt du, Pit«, sagte er im gewohnten, verschlagenen Ton, »wenn du viele Wahlmöglichkeiten hast, dann bietet dir jedes Alter seine Vorteile. Werde erst mal so alt wie ich, dann verstehst du das.«
Der Gesprächspartner meines Großvater gesellte sich zu uns und blieb zwischen uns stehen. Er sah mich fragend an. »Pjotr Chrumow?«
»Ja.«
Er schüttelte den Kopf, als könne er meine Worte nicht glauben.
»Wie du siehst, Krej, schuldest du mir eine Kiste Wein«, frohlockte mein Großvater.
Der grauhaarige Mann nickte und studierte mit ungezügelter Neugier mein Gesicht. »Ihr seid noch nicht einmal Blutsverwandte …«, bemerkte er. »Verzeihung, ich bin Krej Saklad, Mitarbeiter der Handelsliga.«
Wir begrüßten uns per Handschlag.