Madame Semele riß erschrocken die Augen auf und starrte die Dame über die Flammen hinweg unverwandt an. »Wer bist du?« fragte sie.
»Als du mich das letzte Mal gesehen hast«, antwortete die Frau im scharlachroten Gewand, »habe ich mit meinen Schwestern in Carnadine geherrscht, ehe es versunken ist.«
»Du? Aber du bist tot, seit langem schon.«
»Man hat die Lilim schon des öfteren für tot erklärt, aber es war jedesmal gelogen. Das Eichhörnchen hat noch nicht mal die Eichel gefunden, aus dem die Eiche wachsen wird, die das Holz für die Wiege des Kindes liefert, das mich erschlagen wird.«
Silbern loderten die Flammen empor, während sie sprach.
»Dann bist du es also tatsächlich. Und du hast deine Jugend zurückgewonnen.« Madame Semele seufzte. »Und jetzt werde auch ich wieder jung sein.«
Die Frau im scharlachroten Gewand erhob sich und stellte die Schale, in der ihre Portion Hasenbraten gewesen war, ins Feuer. »Du wirst nichts dergleichen sein«, entgegnete sie. »Hast du mir nicht zugehört? In dem Augenblick, wenn ich dich verlasse, wirst du vergessen, daß du mich jemals gesehen hast. Du wirst alles vergessen, selbst den Fluch, obgleich das Wissen darüber immer an dir nagen und dich irritieren wird, wie ein Jucken an einem längst amputierten Glied. Mögest du in Zukunft deine Gäste freundlicher und mit mehr Respekt behandeln.«
Da fing die Holzschale Feuer, und eine riesige Stichflamme schnellte empor, die die Blätter der Eiche hoch über ihnen versengte. Madame Semele stieß die geschwärzte Schale mit einem Stock aus dem Feuer und stampfte im hohen Gras darauf herum. »Was ist bloß in mich gefahren, daß ich die Schale ins Feuer fallen lasse?« rief sie laut. »Und sieh nur, eins meiner hübschen Messer, es ist angekokelt und kaputt. Was hab’ ich mir nur dabei gedacht?«
Sie erhielt keine Antwort. Ein Stück weiter die Straße hinunter war ein Klappern zu hören, das gut von den Hufen von Ziegen hätte stammen können, die durch die Nacht preschten. Madame Semele schüttelte den Kopf, als wollte sie Staub und Spinnweben entfernen. »Ich werde anscheinend alt«, sagte sie zu dem farbenfrohen Vogel, der auf seiner Stange neben dem Fahrersitz hockte und alles gesehen und nichts davon vergessen hatte. »Ja, ich werde alt. Und dagegen kann man nichts machen.« Unbehaglich rutschte der Vogel auf der Stange herum.
Zögernd hoppelte ein Eichhörnchen ins Licht des Feuers. Es nahm eine Eichel, hielt sie einen Moment in seinen handartigen Pfoten, als wollte es beten. Dann rannte es davon, um die Nuß zu vergraben und zu vergessen.
* * *
Scaithes Ebb ist ein kleines auf Granitfels gebautes Hafenstädtchen; hier wimmelt es von Händlern, Schreinern und Segelmachern, von alten Matrosen mit fehlenden Fingern und Gliedmaßen, Seeleuten, die ihre eigenen Grog-Kneipen aufgemacht haben und ihre Tage dort verbringen, die letzten verbliebenen Haare zu langen Zöpfen geflochten, auch wenn die Bartstoppeln am Kinn längst weiß geworden sind. In Scaithe’s Ebb gibt es keine Huren, auch keine, die sich als solche ansehen; andererseits hat es schon immer viele Frauen gegeben, die, wenn man ihnen auf den Zahn fühlt, berichten, mit mehreren Männern verheiratet zu sein – mit dem einen auf einem Schiff, das alle sechs Monate im Hafen liegt, und mit noch einem anderen auf einem Kahn, der ungefähr alle neun Monate für ein paar Wochen hier festmacht.
Meist gibt es bei diesen Arrangements keinerlei Probleme; falls aber jemand nicht so gut damit zurechtkommt und ein Mann zu seiner Frau zurückkehrt, während noch einer ihrer anderen Ehemänner bei ihr lebt, nun, dann gibt es einen Kampf – und die Grog-Kneipen als Trost für den Verlierer. Den Seeleuten gefällt das Arrangement, denn sie wissen, daß auf dieses Weise wenigstens ein Mensch merkt, wenn sie nicht von hoher See zurückkommen, und um sie trauert; ihre Frauen begnügen sich mit dem sicheren Wissen, daß ihre Ehemänner ebenfalls untreu sind, denn nichts kann mit der Liebe eines Mannes zur See wetteifern: Sie ist gleichzeitig seine Mutter und seine Geliebte, sie wäscht seine Leiche, wenn die Zeit gekommen ist, verwandelt ihn in Korallen, Elfenbein und Perlen.
So kam denn Lord Primus von Stormhold des Nachts nach Scaithe’s Ebb, ganz in Schwarz gekleidet und mit einem Bart so dicht wie die Storchennester auf den Schornsteinen der Stadt. Seine Kutsche wurde von vier schwarzen Pferden gezogen. Er mietete ein Zimmer im Gasthaus Seemannsruhe in der Crook Street.
Dort nahm man seine Bedürfnisse und Wünsche mit einer gewissen Befremdung zur Kenntnis, denn er trug sein eigenes Essen und Trinken auf sein Zimmer, eingeschlossen in eine hölzerne Truhe, die er nur öffnete, um sich einen Apfel, ein Stück Käse oder ein Glas Pfefferwein zu genehmigen. Er bewohnte das oberste Zimmer in der Seemannsruhe, einem schmalen hohen Gebäude, das auf einen Felsvorsprung gebaut war, um das Schmuggelgeschäft zu erleichtern.
Lord Primus bestach eine Reihe ansässiger Straßenkinder, ihm Bescheid zu sagen, sobald auf dem Land- oder Seeweg ein Unbekannter in der Stadt einträfe; vor allem sollten sie Ausschau halten nach einem sehr großen, vierschrötigen dunkelhaarigen Burschen, mit einem gierigen Gesicht und ausdruckslosen Augen.
»Allem Anschein nach hat Primus endlich gelernt, vorsichtig zu sein«, sagte Secundus zu seinen fünf anderen toten Brüdern.
»Nun, du weißt ja, was man sagt«, wisperte Quintus im wehmütigen Ton der Toten, der an jenem Tag klang wie das ferne Plätschern der Wellen an einem Kiesstrand. »Ein Mann, der Septimus nicht ständig im Auge behält, ist lebensmüde.«
Am Morgen unterhielt sich Primus mit den Kapitänen, deren Schiffe in Scaithes Ebb vor Anker lagen, spendierte ihnen großzügig Grog, aß und trank selbst aber nie mit ihnen. Nachmittags inspizierte er dann die Schiffe in den Docks.
Schon bald hatten die Klatschmäuler von Scaithe’s Ebb (von denen es mehr als genug gab) die Sache durchschaut: Der bärtige Gentleman wollte sich nach Osten einschiffen. Auf diese Geschichte folgte rasch die nächste, daß er nämlich unter Kapitän Yann auf der Traumherz ausfahren wollte, einem Schiff mit schwarzen Verzierungen und einem blutrot gestrichenen Deck, von mehr oder minder anständiger Reputation (das heißt, es beschränkte seine seeräuberischen Aktivitäten auf ferne Gewässer), und zwar sobald der Gentleman dies wünschte.
»Guter Herr!« sagte ein Gassenjunge zu Lord Primus. »Es ist ein Mann in die Stadt gekommen, auf dem Landweg. Er wohnt bei Mistress Pettier, ist dünn und einer Krähe nicht unähnlich, und ich hab’ ihn im Meeresbrausen gesehen, wo er jedem Gast einen Grog ausgegeben hat. Er sagt, er ist ein Seemann in Not, der eine Unterkunft sucht.«
Primus tätschelte dem verdreckten Jungen den Kopf und drückte ihm eine Münze in die Hand. Dann wandte er sich wieder seinen Vorbereitungen zu, und noch an diesem Nachmittag hörte man, die Traumherz werde in drei Tagen auslaufen.
Am Tag bevor die Traumherz Segel setzte, wurde beobachtet, wie Primus seine Kutsche und die vier Pferde an den Stallmeister in der Warble Street verkaufte; dann marschierte er den Kai hinunter und verteilte kleine Münzen an die Gassenkinder. Schließlich begab er sich in seine Kabine auf der Traumherz, mit der strikten Anweisung, er wolle von niemandem gestört werden, ganz gleich aus welchem Grund, bis das Schiff mindestens eine Woche unterwegs war.
An diesem Abend hatte einer der Matrosen, die für die Takelung der Traumherz zuständig waren, einen Unfall.
Er stürzte im Vollrausch auf dem glitschigen Kopfsteinpflaster der Revenue Street und brach sich die Hüfte. Glücklicherweise stand schon ein Ersatzmann bereit: der Matrose, mit dem der Verunglückte den ganzen Abend lang gebechert hatte und der sich von diesem einen besonders komplizierten Tanzschritt auf den nassen Steinen hatte zeigen lassen. Und eben dieser Matrose unterschrieb in dieser Nacht die Schiffspapiere mit einem Kringel. Als das Schiff am nächsten Tag im Morgennebel den Hafen verließ, war er auf Deck. Die Traumherz segelte ostwärts.