»Oder die Bäume fällen«, steuerte Tristran hilfsbereit bei. Die Stimme schwieg. Er überlegte, wo das Mädchen wohl geblieben war. »Hallo?« sagte er. »Hallo?«
Wieder raschelte es in den Zweigen über ihm.
»So etwas solltest du nicht sagen«, meldete sie sich schließlich wieder zu Wort.
»Tut mir leid«, antwortete Tristran, nicht ganz sicher, wofür er sich eigentlich entschuldigte. »Aber du hast mir gesagt, daß Pan den Wald besitzt…«
»Selbstverständlich tut er das«, entgegnete die Stimme. »Es ist ja nicht schwierig, etwas zu besitzen. Oder alles. Man muß nur wissen, daß es einem gehört, und dann bereit sein, es loszulassen. Pan besitzt den Wald auf diese Art. Und in meinem Traum ist er zu mir gekommen. Du warst auch in meinem Traum und hast ein trauriges Mädchen an einer Kette geführt. Ein sehr, sehr trauriges Mädchen. Pan hat mir gesagt, ich soll dir helfen.«
»Mir?«
»Und ich hab’ mich ganz warm und kribbelig und weich innen drin gefühlt, von den Blätterspitzen bis in die Wurzeln. Da bin ich aufgewacht, und da lagst du hier und hast ganz fest geschlafen, den Kopf an meinem Stamm, und geschnarcht wie ein Ferkel.«
Tristran kratzte sich an der Nase. Jetzt suchte er keine Frau mehr in den Ästen, sondern betrachtete den Baum selbst. »Du bist also ein Baum«, sagte er nachdenklich.
»Aber ich war nicht immer schon ein Baum«, sagte die Stimme im Rauschen der Blutbuchenblätter. »Ein Zauberer hat mich in einen verwandelt.«
»Was warst du vorher?« fragte Tristran.
»Meinst du, er mag mich?«
»Wer?«
»Pan. Wenn du der Herr des Waldes wärst, würdest du doch nur jemandem, den du magst, eine Aufgabe übertragen, ihm sagen, er soll alles in seiner Macht Stehende tun, um zu helfen, oder?«
»Nun…« Tristran zögerte, und ehe er sich zu einer Antwort durchgerungen hatte, sagte der Baum: »Eine Nymphe. Ich war eine Waldnymphe. Aber ein Prinz – kein netter Prinz, einer von der anderen Sorte – hat mich verfolgt, und, na ja, von einem Prinzen, selbst von der falschen Sorte, würde man doch erwarten, daß er die Grenzen kennt, oder nicht?«
»Ja.«
»Genau das denke ich auch. Aber er kannte sie nicht, also hab’ ich beim Weglaufen ein paar Beschwörungsformein gesagt, und – schwupps – da war ich ein Baum. Was hältst du davon?«
»Hmmm«, antwortete Tristran, »ich weiß ja nicht, wie du als Waldnymphe ausgesehen hast, aber als Baum bist du wirklich sensationell.«
Die Blutbuche antwortete nicht gleich, aber die Blätter raschelten sehr wohlklingend. »Als Nymphe war ich auch ziemlich hübsch«, gestand sie scheu.
»Um was für eine Art Hilfe geht es eigentlich genau?« fragte Tristran. »Nicht, daß ich mich beklage. Ich meine, momentan brauche ich jede Hilfe und Unterstützung, die ich kriegen kann. Allerdings ist ein Baum nicht unbedingt die Adresse, an die ich mich wenden würde. Du kannst mich nicht begleiten, mir nichts zu essen geben, den Stern nicht herbeiholen und mich auch nicht nach Wall zu meiner Herzallerliebsten zurückschicken. Natürlich bin ich sicher, daß du ein großartiger Schutz bist, wenn es regnet, aber das tut es ja momentan nicht…«
Die Blätter raschelten. »Warum erzählst du mir nicht einfach deine bisherige Geschichte«, meinte der Baum, »und läßt mich dann beurteilen, ob ich dir helfen kann oder nicht.«
Zuerst wehrte sich Tristran gegen den Vorschlag. Er fühlte, wie sich der Stern immer weiter von ihm entfernte, mit der Geschwindigkeit eines galoppierenden Einhorns, und wenn er für etwas gar keine Zeit hatte, dann für einen Bericht über seine bisherigen Abenteuer. Doch dann fiel ihm ein, daß jeder Fortschritt, den er auf seiner Reise bisher gemacht hatte, dadurch zustande gekommen war, daß er die Hilfe angenommen hatte, die ihm angeboten worden war. So setzte er sich denn auf den Waldboden und erzählte der Blutbuche alles, was ihm in den Kopf kam: von seiner Liebe zu Victoria Forester, einer Liebe, die so wahr und so rein war; von seinem Versprechen, ihr den Stern zu bringen, und zwar nicht irgendeinen Stern, sondern genau den, der vor ihrer beider Augen auf die Erde gefallen war und den sie auf dem Gipfel des Dyties Hill beobachtet hatten; von seiner Reise ins Feenland. Er erzählte von seiner Wanderung, von dem kleinen haarigen Mann und dem kleinen Volk, das ihm seinen Bowler gestohlen hatte; er erzählte von der Zauberkerze, wie er die Meilen zu dem Tal, in dem er den Stern gefunden hatte, in Windeseile durchmessen hatte, vom Löwen und vom Einhorn und wie er den Stern verloren hatte.
Als er seine Geschichte zu Ende gebracht hatte, herrschte Schweigen. Die Blätter der Buche zitterten leise wie unter einem Windhauch, dann heftiger, als braute sich ein Sturm zusammen. Und dann formten sie eine wilde, tiefe Stimme, die sagte: »Wenn du sie gefesselt gelassen hättest und sie den Ketten entflohen wäre, könnte mich keine Macht auf Erden und im Himmel dazu bringen, dir zu helfen, nicht einmal, wenn der Große Pan oder Lady Sylvia höchstpersönlich mich darum anflehen würden. Aber du hast sie freigelassen, und deshalb werde ich dir helfen.«
»Danke«, sagte Tristran.
»Ich werde dir drei Wahrheiten verraten. Zwei davon hier und jetzt, die dritte dann, wenn du sie am dringendsten brauchst. Den Zeitpunkt mußt du selbst bestimmen.
Erstens: Der Stern schwebt in höchster Gefahr. Was in der Waldesmitte geschieht, ist bald auch an den äußersten Grenzen bekannt, und die Bäume sprechen mit dem Wind, und der Wind trägt die Worte weiter zum nächsten Wald, zu dem er gelangt. Es sind Kräfte am Werk, die wollen dem Sternmädchen Böses und noch Schlimmeres. Du mußt es finden und beschützen.
Zweitens: Es gibt einen Pfad durch den Wald, dort hinten bei der Tanne, und ich könnte dir Dinge über diese Tanne erzählen, die einem Felsklotz die Schamesröte ins Gesicht treiben würden. In ein paar Minuten wird eine Kutsche dort auftauchen. Spute dich, dann wirst du sie nicht verpassen.
Drittens: Streck die Hände aus.«
Tristran tat, wie ihm geheißen. Von hoch oben segelte langsam ein Blutbuchenblatt herab, schwebend, tanzend, taumelnd. Es landete genau auf seiner rechten Handfläche.
»Hier«, sagte der Baum. »Paß gut darauf auf. Und hör auf das Blatt, wenn du es am dringendsten brauchst. Nun mach, die Kutsche ist beinahe angekommen.«
Rasch hob Tristran sein Gepäck auf und rannte los; unterwegs verstaute er das Blatt in der Tasche seiner Tunika. Er hörte Hufgetrappel, das durchs Tal immer näher kam. Er wußte, daß er es nicht mehr rechtzeitig schaffen würde, verzweifelte fast, rannte aber dennoch schneller, bis er nur noch sein Herz in der Brust und in den Ohren pochen hörte und das Zischen seines Atems, wenn er die Luft in die Lungen einsog. So stürmte er durchs Farnkraut und erreichte den Pfad tatsächlich im gleichen Augenblick, als die Kutsche heranbrauste.
Sie war schwarz und wurde von vier nachtschwarzen Pferden gezogen; auf dem Kutschbock saß ein bleicher Mann in einer langen schwarzen Robe. Die Kutsche war noch zwanzig Schritte von Tristran entfernt; er stand da, atemlos, und versuchte zu rufen. Aber seine Kehle war ausgetrocknet, er bekam keine Luft, und seine Stimme war bestenfalls ein heiseres Flüstern. Was ein Schrei hätte werden sollen, klang wie ein Keuchen.
Die Kutsche fuhr an ihm vorüber, ohne das Tempo zu drosseln.
Tristran saß auf dem Boden und japste. Doch die Angst um den Stern trieb ihn weiter; er stand wieder auf und lief so schnell er konnte den Waldweg entlang. Nach nicht einmal zehn Minuten traf er wieder auf die Kutsche. Ein riesiger Ast, selbst so groß wie ein kleinerer Baum, war direkt vor die Hufe der Pferde gestürzt, und der Kutscher, der einzige Passagier, versuchte ihn aus dem Weg zu räumen.