»Verfluchtestes Ding«, schimpfte der Mann in der schwarzen Robe; Tristran schätzte ihn auf Ende Vierzig. »Es geht kaum ein Lüftchen, von einem Sturm ganz zu schweigen. Der Ast ist einfach runtergekracht. Hat den Pferden einen ordentlichen Schrecken eingejagt.« Seine Stimme war tief und dröhnend.
Tristran und er spannten die Pferde aus und banden sie mit einem Strick an den großen Ast. Dann schoben die beiden Männer, während die Pferde zogen, und gemeinsam beförderten sie den Ast an den Wegrand. Tristran bedankte sich im stillen bei der Eiche, deren Ast abgebrochen war, bei der Blutbuche und bei Pan, dem Herrn der Wälder. Dann fragte er den Mann in Schwarz, ob er ihn ein Stück durch den Wald mitnehmen könne.
»Ich nehme keine Fahrgäste mit«, antwortete der Kutscher und rieb sich das Kinn.
»Selbstverständlich«, meinte Tristran. »Aber ohne mich würdet Ihr hier noch immer festsitzen. Sicherlich hat die Vorsehung Euch mir gesandt, genau wie sie mich zu Euch gebracht hat. Mir zuliebe braucht Ihr keinen Umweg zu machen, aber vielleicht geratet ihr nochmals in eine Lage, wo Ihr über ein zusätzliches Paar Hände froh seid.«
Der Mann musterte Tristran von oben bis unten. Dann griff er in den Samtbeutel, der an seinem Gürtel hing, und holte eine Handvoll eckiger Granitplättchen hervor.
»Such dir eines aus«, sagte er zu Tristran.
Tristran wählte einen Stein aus und zeigte dem Mann das darauf eingeritzte Symbol. »Hmmm«, war alles, was dieser sagte. »Noch eins.« Tristran tat es. »Und noch eins.« Abermals rieb sich der Mann das Kinn. »Gut, du kannst mit mir kommen«, sagte er. »Die Runen scheinen sich sicher zu sein. Obgleich es nicht ungefährlich sein wird. Aber womöglich gibt es tatsächlich noch weitere abgebrochene Äste. Wenn du willst, kannst du dich neben mich auf den Fahrersitz setzen und mir Gesellschaft leisten.«
Es war seltsam, aber als Tristran auf den Kutschbock kletterte und zum ersten Mal einen Blick in die Kutsche warf, glaubte er dort fünf bleiche Gentlemen sitzen zu sehen, alle ganz in Grau, die ihn anstarrten. Aber als er das nächste Mal hinsah, war niemand da.
Die Kutsche ratterte und holperte über den grasüberwucherten Weg unter einem golden-grünen Blätterdach. Tristran machte sich Sorgen um die Sternfrau. Sicher, freundlich war sie nicht unbedingt, dachte er, aber das ist in gewisser Weise auch verständlich. Er hoffte, daß sie nicht in Schwierigkeiten geriet, bevor er sie erreichte.
* * *
Viele behaupten, der grau-schwarze Gebirgszug, der wie ein Rückgrat von Norden nach Süden durch diesen Teil des Feenlands verlief, sei einmal ein Riese gewesen, der so riesig, dick und schwer war, daß ihm schon allein die kleinste Bewegung und die anderen alltäglichen Kleinigkeiten des Lebens unendlich mühsam erschienen. Eines Tages soll er sich dann völlig überanstrengt auf der Ebene niedergestreckt haben und so fest eingeschlafen sein, daß gleich mehrere Jahrhunderte zwischen zwei seiner Herzschläge verstrichen sind. Dies soll vor langer Zeit geschehen sein, im Ersten Zeitalter der Welt, als alles Stein und Feuer, Wasser und Wind war, und es lebten nur noch wenige, welche die Geschichte als Lüge hätten entlarven können. Doch egal, ob das alles nun der Wahrheit entsprach oder nicht, man nannte die vier hohen Gipfel des Gebirgszuges Mount Head, Mount Shoulder, Mount Belly und Mount Knees – Kopf-Berg, Schulter-Berg, Bauch-Berg und Knie-Berg –, und die Hügel im Süden waren allgemein bekannt als Feet, die Füße. Durch den Gebirgszug führten Pässe, einer zwischen Kopf und Schulter, sozusagen am Hals, und einer direkt südlich vom Bauch.
Es war ein wildes Gebirge, bewohnt von allerlei wilden Kreaturen: schiefergraue Trolle, haarige Waldleute, wildlebende Wodwos, Bergziegen und Grubenzwerge. Einsiedler und Verbannte lebten hier sowie hie und da eine Gipfelhexe. Allerdings gehörte das Gebirge nicht zu den wirklich hohen Bergzügen des Feenlandes, wie beispielsweise Mount Huon, auf dessen Gipfel sich Stormhold befand. Dennoch war die Überquerung für einen einsamen Wanderer äußerst beschwerlich.
Die Hexenkönigin hatte den Paß südlich von Mount Belly in wenigen Tagen hinter sich gebracht und wartete jetzt am Paßausgang. Ihre Ziegen waren an einen Dornbusch gebunden, an dem sie ohne große Begeisterung herumknabberten. Die Hexenkönigin saß derweil neben dem Wagen und schärfte ihre Messer an einem Schleifstein.
Die beiden Messer waren sehr alt. Die Griffe bestanden aus Knochen, die scharfen Klingen aus tiefschwarzem Vulkanglas, in welches für alle Ewigkeit weiße Schneeflockenformen eingefroren waren. Mit seiner beilartigen Klinge war das kleinere, ein schweres und hartes Hackmesser, besonders geeignet, um durch die Rippen eines Brustkorbs zu dringen, sie zu zertrennen und zu zerlegen, während das größere eher einem Dolch glich, mit dem man gut das Herz herausschneiden konnte. Als die Messer so scharf waren, daß sie mit ihnen jemandem hätten die Kehle aufschlitzen können, ohne daß das Opfer auch nur die leiseste Berührung gespürt hätte, obwohl das warme Blut in aller Stille heraussprudelte, legte die Hexenkönigin sie beiseite und begann mit ihren Vorbereitungen.
Zuerst ging sie zu den Ziegenböcken hinüber und flüsterte jedem etwas ins Ohr.
Wo die Ziegen gestanden hatten, erschienen nun ein Mann mit einem weißen Kinnbart und eine burschikose junge Frau mit teilnahmslosen Augen. Sie sagten nichts.
Nun kauerte sie sich neben ihren Wagen und flüsterte abermals einen Zauberspruch. Der Wagen blieb, wie er war, und die Hexenfrau stampfte mit dem Fuß auf.
»Ich werde alt«, sagte sie zu ihren beiden Dienern, aber diese antworteten nicht und ließen auch nicht erkennen, ob sie etwas verstanden hatten. »Unbeseelte Dinge waren schon immer viel schwieriger zu verwandeln als beseelte, denn ihre Seelen sind älter und dümmer und schwerer zu überreden. Wenn ich nur meine wahre Jugend wieder hätte… ach ja, in der Morgendämmerung der Welt konnte ich Berge in Ozeane verwandeln und Wolken in Paläste. Ich konnte Städte mit den Kieselsteinen vom Strand bevölkern. Wenn ich nur wieder jung wäre…«
Sie seufzte tief und hob die Hand: Ein blaues Flämmchen züngelte einen Augenblick um ihre Finger, dann senkte sie die Hand wieder, bückte sich, um ihren Wagen zu berühren, und die Flamme verschwand.
Sie richtete sich auf. In ihrem rabenschwarzen Haar zeigten sich jetzt graue Strähnen, unter ihren Augen dunkle Tränensäcke, aber der Wagen war verschwunden, und sie stand vor einem kleinen Gasthaus am Ausgang des Bergpasses.
Aus der Ferne hörte man leise den Donner grollen, Wetterleuchten blitzte auf.
Das Gasthausschild, auf dem das Bild eines Wagens zu erkennen war, schwang quietschend im Wind hin und her.
»Rein mit euch, ihr beiden«, befahl die Hexenfrau. »Sie reitet in unsere Richtung, also muß sie diesen Paß hier nehmen. Jetzt brauche ich nur noch dafür zu sorgen, daß sie auch reinkommt. Du«, sagte sie zu dem Mann mit dem weißen Ziegenbart, »du bist Billy, Eigentümer dieser Taverne. Ich bin deine Frau, und das da«, sie zeigte auf das Mädchen mit den stumpfen Augen, das einmal Brevis gewesen war, »das da ist unsere Tochter und das Küchenmädchen.«
Abermals hallte der Donner in den Berggipfeln, diesmal lauter als zuvor.
»Bald wird es regnen«, prophezeite die Hexenfrau. »Bereiten wir das Feuer vor.«
* * *
Tristran spürte, daß der Stern dicht vor ihnen war. Das Einhorn war ständig in Bewegung, aber er hatte das Gefühl aufzuholen.
Und zu seiner großen Erleichterung schien auch die Kutsche dem Weg des Sterns zu folgen. An einer Gabelung machte Tristran sich zwar kurz Sorgen, sie würden womöglich die falsche Abzweigung nehmen, und war schon auf dem Sprung, die Kutsche zu verlassen und weder zu Fuß weiterzugehen, doch sein Gefährte zügelte die Pferde, stieg vom Kutschbock und holte seine Runen heraus. Als die Befragung vorbei war, kletterte er wieder herauf und lenkte die Kutsche nach links.