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»Sieh dich bloß an!« sagte die zweite der Lilim. »Du hast die letzte Jugend verbraucht, die wir aufgehoben hatten – ich habe sie selbst aus der Brust der Sternfrau gerissen, vor langer, langer Zeit, obwohl sie geschrien und sich gewunden und Wunder wie angestellt hat. Nach deinem Aussehen zu urteilen, hast du schon so gut wie alles davon verschwendet.«

»Ich war so nah dran«, antwortete die Hexenfrau ihren Schwestern in der Blutpfütze. »Aber sie hatte ein Einhorn, das sie beschützte. Zumindest habe ich jetzt aber den Kopf des Einhorns, und den bringe ich zurück, denn es ist lange genug her, daß wir frisches gemahlenes Einhorn-Horn hatten.«

»Ach, Einhorn-Horn kann mir gestohlen bleiben«, entgegnete ihre jüngste Schwester. »Was ist mit dem Stern?«

»Ich finde ihn einfach nicht. Es ist fast, als wäre er nicht mehr im Feenland.«

Eine Pause trat ein.

»Nein«, sagte eine der Schwestern. »Die Sternfrau ist noch im Feenland. Aber sie ist unterwegs zum Markt in Wall, und das ist zu nahe an der Welt jenseits der Mauer. Wenn sie erst einmal dorthin gelangt, ist sie für uns verloren.«

Denn sie wußten alle, wenn die Sternfrau die Mauer durchquerte und die Welt der realen Dinge betrat, würde sie sich in einen Klumpen metallischen Steins verwandeln, der vor einiger Zeit vom Himmel gefallen war – sie wäre dann kalt und tot und für sie vollkommen nutzlos.

»Dann werde ich nach Diggory’s Dyke gehen und auf sie warten, denn da müssen alle vorbei, die nach Wall wollen.«

Die Spiegelbilder der beiden alten Frauen glotzten mißbilligend aus dem Tümpel. Die Hexenkönigin fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. Der da oben fällt wahrscheinlich noch heute abend raus, dachte sie, so, wie der wackelt. Dann spuckte sie kräftig in die Blutpfütze. Kleine Wellen breiteten sich aus und vertrieben jede Spur der Lilim; jetzt spiegelten sich in der Pfütze nur noch der Himmel über dem Ödland und die fernen weißen Wolken weit über ihnen.

Die Hexenfrau trat gegen das tote Einhorn, so daß es auf die Seite rollte. Dann nahm sie den Kopf und schleppte ihn mit sich zum Fahrersitz. Dort legte sie ihn neben sich, griff in die Zügel und peitschte die widerspenstigen Pferde zu einem müden Trott.

* * *

Tristran saß auf der Spitze des Wolkenbergs und fragte sich, warum die Helden der Groschenromane, die er in Wall so begierig verschlungen hatte, nie hungrig waren.

Sein Magen jedenfalls knurrte, und seine Hand tat schrecklich weh.

Abenteuer sind ja schön und gut, dachte er, aber es spricht doch einiges für regelmäßige Mahlzeiten und Vermeidung von Schmerzen.

Trotzdem – er war noch am Leben, der Wind zerzauste ihm die Haare, und die Wolke schwebte über den Himmel wie eine Galeone unter vollen Segeln. Während er so von oben auf die Welt hinabschaute, konnte er sich nicht erinnern, sich jemals so lebendig gefühlt zu haben. Er empfand die Existenz des Himmels so intensiv wie nie und kostete jeden Moment aus, wie er es nie zuvor getan hatte.

Er erkannte, daß er in gewisser Weise über seinen Problemen stand, so, wie er über der Welt schwebte. Selbst der Schmerz in seiner Hand schien weit weg. Wenn er über seine Erlebnisse und Abenteuer nachdachte, über die Reise, die noch vor ihm lag, so erschien ihm alles auf einmal ganz klein und klar. Er stellte sich hoch oben auf den Wolkenberg und rief mehrmals so laut er konnte: »Hallo!« Obwohl er sich dabei ein wenig albern vorkam, schwenkte er sogar ein paarmal seine Tunika über den Kopf. Dann kletterte er wieder hinunter; drei Meter vom Boden der Wolke entfernt verlor er den Halt und fiel in die neblig-weiche Masse.

»Warum hast du denn so geschrien?« fragte Yvaine.

»Damit die Leute merken, daß wir hier sind«, erklärte Tristran.

»Welche Leute denn?«

»Man kann nie wissen«, meinte er. »Besser, ich rufe Leute, die nicht da sind, als daß Leute, die da sind, uns nicht bemerken, weil ich nicht gerufen habe.«

Darauf wußte sie keine Antwort.

»Ich habe nachgedacht«, sagte Tristran, »und bin auf folgendes gekommen: Wenn wir meine Aufgabe erfüllt haben – also wenn ich dich nach Wall gebracht und Victoria Forester geschenkt habe –, vielleicht könnten wir dann etwas für dich tun.«

»Für mich?«

»Naja, du möchtest doch zurück, oder nicht? Wieder hinauf an den Himmel. Nachts leuchten und so. Darum könnten wir uns dann kümmern.«

Sie blickte zu ihm empor und schüttelte den Kopf. »Wenn ein Stern erst mal vom Himmel gefallen ist, kann er nicht mehr zurück.«

»Du könntest die erste sein, der das gelingt«, entgegnete er. »Aber du mußt daran glauben. Sonst passiert es nicht.«

»Das wird es sowieso nicht«, beharrte sie. »Genausowenig wie dein Geschrei jemanden auf uns aufmerksam machen wird hier oben, wo sowieso niemand hinkommt. Es spielt keine Rolle, ob ich es glaube oder nicht, so ist es eben. Wie geht’s deiner Hand?«

»Tut weh«, antwortete er achselzuckend. »Aber nicht mehr ganz so schlimm.«

»Ahoi!« erscholl da plötzlich eine Stimme von oben. »Ahoi da unten! Braucht ihr Hilfe?«

Über ihnen schimmerte golden ein kleines Schiff im Sonnenlicht, mit geblähten Segeln, und ein rotes Gesicht mit Schnurrbart spähte über den Rand zu ihnen herunter. »Warst du das, junger Mann, der da eben so rumgehüpft und rumgesprungen ist?«

»Ja«, antwortete Tristran. »Und ich glaube, wir brauchen tatsächlich Hilfe, ja.«

»In Ordnung«, sagte der Mann. »Dann macht euch bereit für die Leiter.«

»Meine Freundin hat leider ein gebrochenes Bein«, rief Tristran, »und ich hab’ mir die Hand verletzt. Ich glaube kaum, daß wir eine Leiter hochklettern können.«

»Kein Problem. Wir ziehen euch hoch.« Mit diesen Worten ließ er eine lange Strickleiter zu ihnen herab. Tristran fing sie mit seiner heilen Hand auf und hielt sie fest, während Yvaine sich mühsam ein paar Stufen hochhangelte. Dann stellte er sich hinter sie aufs Ende der Leiter. Nun verschwand das rote Gesicht, und Tristran und Yvaine baumelten unbeholfen am Ende der Leiter.

Der Wind erfaßte das Luftschiff, so daß die Leiter von der Wolke hochgezogen wurde und Tristran und Yvaine sich langsam in der Luft drehten.

»Los geht’s – hebt an!« riefen mehrere Stimmen gleichzeitig, und Tristran spürte, wie er und Yvaine sich mehrere Fuß in die Lüfte erhoben. »Hebt an! Hebt an! Hebt an!« Mit jedem Ruf wurden sie ein wenig höher gezogen. Inzwischen war die Wolke, auf der sie gesessen hatten, nicht mehr unter ihnen; statt dessen tat sich zu ihren Füßen ein Abgrund auf, den Tristran auf etwa eine Meile schätzte. Er hielt das Seil ganz fest, den Ellbogen über seiner verletzten Hand sicher in die Strickleiter gehakt.

Noch ein Ruck nach oben, und Yvaine befand sich auf Höhe der Schiffsreling. Jemand hob sie behutsam darüber und stellte sie aufs Deck, dann kletterte auch Tristran ins Schiff.

Der rotbackige Mann streckte ihnen die Hand entgegen. »Willkommen an Bord«, sagte er. »Dies ist das Freie Schiff Perdita, unterwegs auf Blitzjagd-Expedition. Kapitän Johannes Alberic, stets zu Diensten.« Er hustete tief in der Brust. Ehe Tristran antworten konnte, erspähte der Kapitän die verletzte Hand und rief: »Meggot! Meggot! Verflixt, wo steckst du denn? Hierher! Da sind Passagiere, die versorgt werden müssen. Komm, mein Junge, Meggot wird sich um deine Hand kümmern. Wir essen um sechs Glasen. Ihr sitzt an meinem Tisch.«

Kurz darauf erschien eine etwas aufgedrehte Frau mit einer roten, einem Wischmop nicht unähnlichen Mähne – Meggot – und begleitete sie unter Deck, wo sie eine dicke grüne Salbe auf Tristrans Hand strich, die angenehm kühlte und den Schmerz deutlich linderte. Dann wurden sie in die Messe geführt, einen kleinen Speisesaal neben der Küche, die zu Tristrans großer Freude tatsächlich wie in seinen Groschenromanen »Kombüse« genannt wurde.