Sie nahmen am Tisch des Kapitäns Platz; allerdings befanden sich gar keine anderen Tische in der Messe. Außer dem Kapitän und Meggot gab es noch weitere fünf Besatzungsmitglieder, ein buntes Häufchen, das die Konversation gern Kapitän Alberic überließ, wozu dieser nicht lange gebeten werden mußte. Den Bierhumpen in der einen Hand, in der anderen abwechselnd die kurze Pfeife oder den gefüllten Löffel, plauderte er munter daher.
Die Mahlzeit bestand aus einer dicken Suppe mit Gemüse, Bohnen und Gerste; Tristran fühlte sich gesättigt und zufrieden. Zu trinken gab es das klarste, kälteste Wasser, das er je geschmeckt hatte.
Der Kapitän stellte keine Fragen, wie sie auf die Wolke gekommen waren, und Tristran und Yvaine gaben von sich aus auch keine Erklärungen ab. Tristran bekam die Koje neben Oddness, dem ersten Maat, einem ruhigen Zeitgenossen mit großen Flügeln, der furchtbar stotterte, während Yvaine in Meggots Kabine untergebracht wurde und Meggot in eine Hängematte umzog.
Während seiner weiteren Reise durch das Feenland erwischte Tristran sich oft dabei, daß er sich an seine Zeit auf der Perdita als eine der glücklichsten Zeiten seines Lebens erinnerte. Die Besatzung ließ ihn beim Segelsetzen helfen, und gelegentlich durfte er sogar das Steuerrad bedienen. Manchmal segelte das Schiff über dunklen, berghohen Gewitterwolken dahin. Dann fischte die Besatzung mit einer kleinen Kupferkiste nach Blitzen. Regen und Wind wuschen das Schiffsdeck sauber, und Tristran lachte oft laut vor Vergnügen, wenn ihm der Regen übers Gesicht rann, und er hielt sich mit seiner unversehrten Hand in der Seilreling fest, damit der Sturm ihn nicht über Bord beförderte.
Meggot, die ein wenig größer und dünner war als Yvaine, hatte ihr ein paar Kleider geliehen, welche die Sternfrau voller Erleichterung trug. Sie freute sich über die Abwechslung und zog jeden Tag ein anderes an. Bisweilen kletterte sie trotz des gebrochenen Beins auf die Galionsfigur hinaus, wo sie lange saß und die Welt unter sich betrachtete.
* * *
»Wie geht es deiner Hand?« fragte der Kapitän.
»Viel besser, danke«, sagte Tristran. Zwar glänzte die narbige Haut, und er hatte kaum Gefühl in den Fingern, aber dank Meggots Salbe waren die Schmerzen so gut wie weg, und der Heilungsprozeß ging ungleich schneller voran. Nun saß er auf Deck, ließ die Beine über die Seite baumeln und sah hinaus.
»In einer Woche werfen wir Anker, um Vorräte und ein wenig Fracht aufzunehmen«, sagte der Kapitän. »Vielleicht ist es am besten, wenn wir euch dann aussteigen lassen.«
»Oh. Dankeschön«, antwortete Tristran.
»Dann seid ihr näher bei Wall, allerdings werdet ihr immer noch gut zehn Wochen dorthin brauchen. Vielleicht auch länger. Aber Meggot sagt, sie habe das Bein deiner Freundin beinahe wieder flott. Sie wird es schon bald wieder belasten können.«
Seite an Seite saßen sie da. Der Kapitän paffte seine Pfeife. Seine Kleider waren von einer dünnen Ascheschicht bedeckt, und wenn er die Pfeife gerade nicht rauchte, kaute er auf ihrem Stiel oder kratzte mit einem scharfen Metallinstrument im Pfeifenkopf herum oder stopfte sie neu.
»Weißt du«, sagte der Kapitän, den Blick zum Horizont gerichtet, »es war kein reiner Zufall, daß wir euch gefunden haben, na ja, es war schon Glück, aber es entspricht auch der Wahrheit, daß ich euch ein bißchen im Auge behalten habe. Ich und auch noch ein paar andere aus der Gegend.«
»Warum?« wollte Tristran wissen. »Und woher wußtet Ihr von mir?«
Statt einer Antwort zeichnete der Kapitän eine Form auf das beschlagene Holz.
»Sieht aus wie ein Schloß«, meinte Tristran.
Der Kapitän blinzelte ihm zu. »Man sollte lieber nicht zu laut darüber sprechen«, sagte er, »selbst hier oben nicht. Stell es dir als eine Art Bruderschaft vor.«
Tristran starrte ihn an. »Kennt Ihr einen kleinen haarigen Mann mit einem Hut und einem riesigen, vollgestopften Tornister?«
Nachdenklich klopfte der Kapitän seine Pfeife am Rand des Luftschiffs aus. Mit einer schnellen Handbewegung hatte er das Bild des Schlosses bereits weggewischt. »Ja. Und er ist nicht das einzige Mitglied der Bruderschaft, das ein Interesse daran hat, daß du wohlbehalten nach Wall zurückkehrst. Wobei mir einfällt, du solltest deiner jungen Dame sagen, wenn sie ihre wahre Identität geheimhalten will, sollte sie gelegentlich wenigstens so tun, als würde sie was essen.«
»Ich habe Wall in Eurer Gegenwart nie erwähnt«, sagte Tristran. »Als Ihr gefragt habt, woher wir kommen, habe ich gesagt ›Von da hinten‹. Und als Ihr mich gefragt habt, wo wir hingehen, habe ich geantwortet: ›Immer der Nase nach‹.«
»So ist’s auch gut«, lobte der Kapitän. »Genau.«
Eine weitere Woche verstrich; am fünften Tag verkündete Meggot, Yvaines Schiene könne abgenommen werden. Sie entfernte die provisorischen Bandagen und den Stock, und Yvaine übte auf Deck vom Bug zum Heck zu gehen, wobei sie sich am Geländer festhielt. Schon bald bewegte sie sich ohne Schwierigkeiten auf dem Schiff umher, wenn auch mit einem leichten Hinken.
Am sechsten Tag gab es einen gewaltigen Sturm, und sie fingen sechs schöne Blitze in der Kupferkiste. Am siebten Tag liefen sie in den Hafen ein. Tristran und Yvaine verabschiedeten sich vom Kapitän und der Besatzung des Freien Schiffs Perdita. Meggot schenkte Tristran einen kleinen Topf mit der grünen Salbe, mit der er seine Hand und Yvaines Bein einreiben konnte. Der Kapitän drückte Tristran eine lederne Schultertasche mit getrocknetem Fleisch, Früchten, Tabak, einem Messer und einer Streichholzschachtel in die Hand. Als Tristran bescheiden abwehrte, sagte der Kapitän: »Oh, das macht doch überhaupt keine Umstände, Junge. Wir nehmen hier sowieso Vorräte auf.« Für Yvaine hielt Meggot ebenfalls ein Geschenk bereit: ein blaues Seidenkleid, über und über mit kleinen Silbersternen und -monden bestickt. »Das sieht an dir nämlich viel besser aus als an mir, Liebes«, erklärte sie ihr.
Das Schiff ging neben einem Dutzend anderer, ähnlich geformter Schiffe vor Anker. Sie alle trafen sich an der Spitze eines riesigen Baumes, der so groß war, daß er Hunderte von Wohnstätten in seinem Stamm beherbergte. Dort lebten Menschen und Zwerge, Gnome und Waldgeister und andere, noch seltsamere Kreaturen. Um den Stamm liefen Stufen, die Tristran und die Sternfrau langsam hinabstiegen. Tristran war erleichtert, wieder festen Boden unter seinen Füßen zu spüren, und doch fühlte er sich, auf eine Art, die er nicht hätte in Worte fassen können, enttäuscht – so als hätte er, als seine Füße den Boden berührten, etwas ganz Besonderes verloren.
Drei Tage wanderten sie, bis der Hafenbaum am Horizont verschwunden war.
Sie gingen nach Westen in Richtung Sonnenuntergang, eine breite, staubige Straße entlang. Zum Schlafen suchten sie Schutz hinter einer Hecke. Tristran aß Früchte und Nüsse von Büschen und Bäumen, und er trank aus klaren Bächen. Nur wenige Leute begegneten ihnen auf der Straße. Wenn es sich ergab, machten sie bei kleinen Farmen halt, wo Tristran den Nachmittag über arbeitete und dafür Essen und Stroh für ein Lager in der Scheune bekam. Manchmal rasteten sie auch in den Städten und Dörfern unterwegs, um sich zu waschen und etwas zu essen – beziehungsweise so zu tun. Wenn sie es sich leisten konnten, nahmen sie auch mal ein Zimmer im örtlichen Gasthaus.
In der Stadt Simcock-Under-Hill trafen sie auf ein Goblin-Preßkommando, eine Begegnung, die schlimm hätte ausgehen können. Ohne Yvaines Geistesgegenwart und ihre scharfe Zunge wäre Tristran womöglich als Söldner verschleppt worden und hätte den Rest seines Lebens im endlosen unterirdischen Krieg der Goblins mitkämpfen müssen. In Berinhed’s Forest wehrte Tristran mutig einen der großen lohfarbenen Adler ab, der sie beide gerne zu seinem Nest getragen und an seine Jungen verfuttert hätte – und der vor nichts Angst hatte außer vor Feuer.