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In einer Taverne in Fulkeston erntete Tristran große Bewunderung, weil er Coleridges Kubla Khan, den dreiundzwanzigsten Psalm, den Monolog über die Bedeutung der Gnade aus dem Kaufmann von Venedig sowie ein Gedicht über einen Jungen auf einem brennenden Schiffsdeck auswendig aufsagte. All das hatte er sich in der Schule einprägen müssen, und im stillen dankte er Mrs. Cherry, daß sie ihn dazu gezwungen hatte. Doch dann merkte er plötzlich, daß die Einwohner von Fulkeston beschlossen hatten, er müsse für immer bei ihnen bleiben und ihr neuer Barde werden, und so waren er und Yvaine gezwungen gewesen, sich mitten in der Nacht davonzustehlen. Das schafften sie allerdings nur, weil Yvaine die Hunde der Stadt überredete, nicht zu bellen (wie sie das bewerkstelligte, blieb Tristran jedoch ein Rätsel).

In der Sonne wurde Tristrans Gesicht nußbraun, und seine Kleider nahmen eine rostbraune und staubgraue Färbung an. Yvaine dagegen blieb bleich wie der Mond, und sie hörte auch nicht auf zu hinken, ganz gleich, wie viele Meilen sie zurücklegten.

Als sie eines Abends am Waldrand kampierten, hörte Tristran etwas, was ihm noch nie zu Ohren gekommen war: eine wunderschöne Melodie, getragen und fremdartig. Sie füllte sein Herz mit Visionen und sein Herz mit Ehrfurcht und Freude. Die Musik ließ ihn an einen Raum ohne Grenzen denken, an riesige Kristallbälle, die unsäglich langsam durch die unermeßlichen Hallen der Lüfte kreisten. Die Melodie hob ihn empor, über sich selbst hinaus.

Nach einer Zeit, die mehrere Stunden oder auch nur ein paar Minuten hätte sein können, trat Stille ein, und Tristran seufzte. »Das war wunderbar«, sagte er.

Unwillkürlich verzog sich der Mund der Sternfrau zu einem Lächeln, und ihre Augen strahlten. »Danke«, sagte sie. »Mir war bis jetzt nie nach Singen zumute.«

»So etwas habe ich noch nie gehört.«

»In manchen Nächten haben meine Schwestern und ich zusammen gesungen«, sagte sie. »Lieder wie dieses hier, über die Mondfrau, unsere Mutter, über die Natur der Zeit, über die Freude des Leuchtens und die Einsamkeit.«

»Es tut mir leid«, sagte Tristran.

»Es braucht dir nicht leid zu tun«, entgegnete sie. »Wenigstens lebe ich noch. Ich hatte Glück, daß ich im Feenland abgestürzt bin. Und wahrscheinlich hatte ich auch Glück, daß ich dir begegnet bin.«

»Danke«, sagte Tristran.

»Bitte sehr«, sagte die Sternfrau. Dann seufzte auch sie und starrte durch die Bäume hinauf zum Himmel.

* * *

Tristran suchte etwas zum Frühstück. Er hatte ein paar junge Boviste gefunden und einen Pflaumenbaum, der voller lilafarbener Früchte hing, die gereift und fast zu Dörrpflaumen getrocknet waren. Da entdeckte er den Vogel im Unterholz.

Er versuchte nicht, ihn zu fangen. (Vor ein paar Wochen hatte er nämlich einen schlimmen Schock erlitten, als ein graubrauner Hase, den er als Abendessen ausersehen hatte, ihm um Haaresbreite entwischte, am Waldrand aber innehielt, Tristran einen verächtlichen Blick zuwarf und rief: »Tja, hoffentlich bist du jetzt stolz auf dich.« Dann verschwand er im hohen Gras.) Aber der Vogel faszinierte ihn. Es war ein bemerkenswerter Vogel, groß wie ein Fasan, aber mit Federn in allen Farben: grelle Rottöne, schillerndes Gelb und leuchtendes Blau. Vielleicht hatte er sich aus den Tropen hierher verirrt, denn er wirkte gänzlich fehl am Platz in diesem grünen, farnbewachsenen Wald. Als Tristran sich dem Vogel näherte, zuckte dieser ängstlich zusammen, fing an, ungeschickt umherzuhüpfen und stieß laute Klagelaute aus.

Tristran ging auf die Knie und redete ihm beruhigend zu. Dann streckte er die Hand nach dem Vogel aus. Dessen Notlage war eindeutig: Am Fuß des Vogels war eine silberne Kette befestigt, die sich in einem Wurzelfortsatz verfangen hatte; da hing der Vogel nun fest und kam nicht mehr von der Stelle.

Behutsam entwirrte Tristran die Silberkette, während er mit der linken Hand das Gefieder des Vogels streichelte. »Da haben wir’s«, sagte er. »Du kannst heimfliegen.« Doch der Vogel machte keine Anstalten, sich zu entfernen. Statt dessen starrte er Tristran mit schiefgelegtem Kopf ins Gesicht. »Hör mal«, sagte Tristran, der sich seltsam und etwas gehemmt fühlte, »wahrscheinlich wartet irgendwo irgend jemand auf dich.« Damit bückte er sich und wollte den Vogel hochheben.

Da traf ihn ein Schlag; obwohl er still gestanden hatte, war es ein Gefühl, als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer gerannt. Er taumelte und wäre beinahe umgefallen.

»Dieb!« rief eine heisere Stimme. »Ich verwandle deine Knochen zu Eis und röste dich im Feuer. Ich kratz’ dir die Augen aus und binde das eine an einen Hering und das andere an eine Möwe, damit der Anblick von Meer und Himmel dich in den Wahnsinn treibt! Ich verwandle deine Zunge in einen Wurm und deine Finger in Rasiermesser, und Feuerameisen sollen deine Haut kitzeln, und wenn du dich kratzt…«

»Es besteht keine Notwendigkeit, Euch weiter so aufzuregen«, sagte Tristran zu der alten Frau. »Ich wollte Euren Vogel nicht stehlen. Seine Kette hatte sich an einer Wurzel verfangen, und ich habe ihn gerade befreit.«

Argwöhnisch glotzte sie ihn unter ihren grauen Wuschelhaaren an. Dann schlurfte sie näher heran und hob den Vogel auf. Sie hielt ihn hoch, flüsterte ihm etwas zu, und er antwortete mit einem seltsamen musikalischen Zwitschern. Die alte Frau kniff die Augen zusammen. »Nun, vielleicht ist an dem, was du sagst, tatsächlich ein Körnchen Wahrheit«, räumte sie äußerst widerwillig ein.

»Es ist die volle Wahrheit«, erwiderte Tristran, aber die alte Frau und ihr Vogel hatten die Lichtung schon halbwegs überquert; also sammelte er seine Boviste und seine Pflaumen und ging zurück zu der Stelle, wo Yvaine auf ihn wartete.

Sie saß neben dem Weg und rieb sich die Füße. Die Hüfte tat ihr weh, ihr Bein ebenfalls, und ihre Füße wurden von Tag zu Tag empfindlicher. Manchmal hörte Tristran sie nachts leise vor sich hin weinen. Er hoffte, die Mondfrau würde ihnen noch ein Einhorn schicken, wußte aber, daß dies höchst unwahrscheinlich war.

»Also das war wirklich seltsam«, sagte Tristran zu Yvaine. Dann erzählte er ihr, was er gerade erlebt hatte, in der festen Überzeugung, damit sei die Sache erledigt.

Natürlich irrte er sich. Etliche Stunden später wanderten Tristran und die Sternfrau den Waldweg entlang, als sie von einem bunt bemalten Zigeunerwagen überholt wurden, der von zwei grauen Maultieren gezogen wurde. Vorn saß die alte Frau, die gedroht hatte, Tristrans Knochen in Eis zu verwandeln. Als sie die beiden sah, zügelte sie die Maultiere und winkte Tristran mit ihrem knochigen Finger zu sich. »Komm her junge«, sagte sie.

Vorsichtig näherte er sich. »Ja, Ma’am?«

»Sieht aus, als müßte ich mich bei dir entschuldigen«, sagte sie. »Offenbar hast du die Wahrheit gesagt. Ich hab’ voreilige Schlüsse gezogen.«

»Ja«, antwortete Tristran.

»Laß mich dich ansehen«, sagte sie und stieg auf den Weg herab. Ihr kalter Finger berührte Tristran unter dem Kinn und zwang ihn, den Kopf zu heben. Seine nußbraunen Augen starrten in ihre alten grünen Augen. »Du siehst einigermaßen ehrlich aus«, stellte sie fest. »Du kannst mich Madame Semele nennen. Ich bin unterwegs nach Wall, zum Markt. Ich hab’ mir gedacht, ich könnte gut einen Jungen für meinen kleinen Blumenstand brauchen – ich verkaufe Glasblumen, weißt du, die hübschesten, die du je zu Gesicht bekommen hast. Du wärst ein feiner Marktjunge, und ich könnte dir einen Handschuh für deine kaputte Hand geben, damit du die Kunden nicht vergraulst. Was sagst du dazu?«

Tristran überlegte. »Entschuldigt mich einen Moment«, sagte er schließlich und ging zu Yvaine, um sich mit ihr zu beraten. Zusammen kamen sie zu der alten Frau zurück.

»Guten Tag«, sagte die Sternfrau. »Wir haben über Euer Angebot gesprochen und denken, daß…«