Wieder schnalzte sie mit der Zunge, schüttelte die Zügel, und die Maultiere setzten sich in Bewegung.
Während die Hexe so durch den Wald fuhr, ruhte Yvaine sich auf dem staubigen Bett aus. Der Wohnwagen ruckelte und zuckelte. Als er anhielt, erwachte sie und stand auf. Solange die Hexe schlief, setzte Yvaine sich aufs Dach und blickte zu den Sternen empor. Hin und wieder kam der Vogel der Hexe zu ihr, und sie streichelte ihn und spielte mit ihm, denn es tat gut, jemanden zu haben, der ihre Existenz zur Kenntnis nahm. Aber sobald die Hexe wieder auftauchte, strafte auch der Vogel Yvaine mit Nichtachtung.
Yvaine kümmerte sich auch um die Haselmaus, die die meiste Zeit des Tages verschlief, zusammengerollt, den Kopf zwischen den Pfoten. Wenn die Hexe unterwegs war, um Feuerholz zu sammeln oder Wasser zu holen, öffnete Yvaine den Käfig, streichelte die Maus, sprach mit ihr, und ein paarmal sang sie ihr etwas vor, obwohl sie nicht sicher war, ob etwas von Tristran in der Haselmaus geblieben war. Das Tier starrte sie mit ruhigen, verschlafenen Augen an, die aussahen wie kleine schwarze Tintenkleckse; sein Fell war weicher als Daunen.
Nun, da sie nicht mehr zu Fuß unterwegs war, schmerzte ihre Hüfte nicht mehr, und auch die Füßen taten nicht mehr so weh. Yvaine wußte, daß sie für immer hinken würde, denn Tristran war kein Arzt, der gebrochene Knochen richtig zusammenfügen konnte; dennoch hatte er sein Bestes getan, dieser Ansicht war auch Meggot gewesen.
Wenn sie jemandem begegneten, was nicht oft geschah, versteckte sich die Sternfrau so gut es ging. Aber die Hexe war blind und taub für Yvaines Anwesenheit, selbst wenn diese sich unter ihrer Nase mit jemandem unterhielt – oder wenn jemand, wie es ein Holzfäller einmal tat, auf sie deutete und sich nach ihrer Herkunft erkundigte. Offenbar konnte die Hexe nicht einmal hören, wenn jemand von der Sternfrau sprach.
So verstrichen die Wochen im Wohnwagen der Hexe, klappernd und ratternd, für die Hexe, den Vogel, die Haselmaus und den gefallenen Stern.
KAPITEL 9
Das sich vornehmlich mit den Ereignissen
in Diggory’s Dyke befaßt
Diggory’s Dyke war ein tiefer Einschnitt in einer grünen Hochfläche, auf der eine dünne Grasschicht und rötliche Erde den Kalk bedeckten und es kaum genug Boden gab, auf dem Bäume gedeihen konnten. Aus der Ferne sah der Graben aus wie ein klaffender weißer Riß in einem grünen Samtbrett. Der Legende zufolge war Diggory’s Dyke in einem Tag und einer Nacht von einem gewissen Diggory ausgehoben worden, mit einem Spaten, der einst ein Schwert gewesen war, bevor Wayland Smith es auf seiner Reise von Wall ins Feenland geschmolzen und geschmiedet hatte. Manche behaupteten, dieses Schwert wäre einmal Flamberge gewesen, andere meinten, es handle sich um das Schwert Balmung; aber niemand wußte genau, wer Diggory eigentlich gewesen war, und es bestand durchaus die Möglichkeit, daß die ganze Geschichte frei erfunden war. Jedenfalls führte der Weg nach Wall durch Diggory’s Dyke, und jeder, ganz gleich, ob er zu Fuß oder mit einem Fahrzeug unterwegs war, mußte die Schlucht durchqueren, wo die hohen Kalksteinwände aufragten und die Hügel sich erhoben wie grüne Kissen in dem Bett eines Riesen.
Mitten in der Schlucht, neben dem Weg, befand sich etwas, was auf den ersten Blick wie ein Haufen aufgeschichteter Äste und Zweige aussah. Bei näherem Hinsehen hätte man bemerkt, daß es sich um eine Art kleine Hütte oder ein großes hölzernes Tipi handelte, aus dessen Dach sich gelegentlich grauer Rauch emporkringelte.
Der Mann in Schwarz hatte von den grünen Hügeln weit oben nun seit zwei Tagen den Holzstapel intensiv beobachtet; gelegentlich traute er sich auch etwas näher heran. Inzwischen war er zu dem Schluß gekommen, daß die Hütte von einer Frau in fortgeschrittenem Alter bewohnt wurde. Sie hatte keine Gefährten und ging keiner ersichtlichen Beschäftigung nach, außer daß sie jeden einsamen Reisenden und jedes Fahrzeug, die durch den Dyke kamen, anhielt und sich auf diese Weise wohl irgendwie die Zeit vertrieb.
Zwar schien sie recht harmlos zu sein, aber Septimus war vor allem deshalb das letzte überlebende männliche Mitglied seiner Familie, weil er sich nicht auf den äußeren Schein verließ, und immerhin hatte diese alte Frau seinem Bruder Primus die Kehle aufgeschlitzt, da war er ganz sicher.
Nach der Tradition der Blutrache mußte ein Leben mit einem anderen bezahlt werden; allerdings war nirgends genauer geklärt, wie man dieses Leben auszulöschen hatte. Seinem Temperament nach war Septimus ein leidenschaftlicher Giftmischer. Zwar hatte er gegen Klingen und Schlagwaffen und Bomben grundsätzlich nichts einzuwenden, aber ein Fläschchen mit klarer Flüssigkeit, die nicht durchschmeckte, wenn man sie ins Essen mischte – das war Septimus’ Metier.
Unglücklicherweise schien die alte Frau nichts zu sich zu nehmen, das sie nicht selbst sammelte oder in ihren kleinen Fallen fing, und obwohl Septimus darüber nachdachte, ihr einen dampfenden Kuchen vor die Tür zu stellen, mit reifen Äpfeln und tödlichen Giftbeeren, so mußte er diese Idee doch bald verwerfen, weil sie nicht praktikabel war. Des weiteren zog er in Erwägung, einen Kalkfelsen vom Hügel auf ihr kleines Haus rollen zu lassen, aber da konnte er nicht sicher sein, ob er sie wirklich erwischte. Er wünschte sich, er wäre ein Zauberer – zwar besaß er etwas von dem Orientierungstalent, das in seiner Familie verbreitet war, und beherrschte ein paar kleine Zaubertricks, die er sich im Lauf der Jahre angeeignet oder irgendwo abgekupfert hatte. Aber nichts von dem konnte ihm jetzt nützlich sein, jetzt, da er eine Flut oder einen Hurrikan oder einen Blitzschlag gebraucht hätte. So beobachtete Septimus denn sein zukünftiges Opfer wie die Katze das Mauseloch, Stunde um Stunde, bei Tag und bei Nacht.
Es war schon nach Mitternacht, mondlos und dunkel, als Septimus schließlich zum Eingang der Hütte schlich, in der einen Hand einen Feuertopf und in der anderen ein Buch mit romantischen Gedichten und ein Drosselnest, in das er eine Anzahl Tannenzapfen gelegt hatte. An seinem Gürtel hing ein Eichenknüppel, die Keule mit Messingnägeln beschlagen. Er horchte an der Tür, konnte aber nichts hören außer rhythmischem Atmen und hie und da einem schläfrigen Grunzen. Seine Augen waren an die Dunkelheit gewöhnt, und die Hütte hob sich deutlich vor dem weißen Kalkstein des Dyke ab. Er schlich sich auf die Seite des Häuschens, von wo er die Tür im Auge behalten konnte.
Zuerst riß er die Seiten aus dem Gedichtband und zerknüllte jedes Gedicht zu einer Papierkugel; dann steckte er diese ganz unten zwischen die Zweige. Auf die Gedichte legte er die Tannenzapfen. Als nächstes öffnete er den Feuertopf, löste mit der Messerspitze eine Handvoll gewachster Leinenstreifen vom Deckel, tunkte diese in die glühende Asche auf dem Boden des Topfs, und als sie hell brannten, plazierte er sie auf die Papierknäuel und die Zapfen und blies in die flackernden gelben Flämmchen, bis die geschichteten Zweige Feuer fingen. Nun fügte er trockene Zweige von seinem Vogelnest hinzu, und bald brannte es lichterloh. Das trockene Holz der Hüttenwand begann zu qualmen, so daß Septimus ein Husten unterdrücken mußte, dann fingen auch sie Feuer, und er lächelte zufrieden.
Er kehrte zum Hütteneingang zurück und hob den Knüppel. Denn, so hatte er sich überlegt, entweder wird die Alte mit ihrer Hütte verbrennen, wodurch meine Aufgabe erledigt ist, oder sie riecht den Qualm, wacht auf und stürzt panisch ins Freie, woraufhin ich ihr meinen Knüppel über den Kopf schlage, ehe sie auch nur ein Wort herausbringt. In beiden Fällen ist sie tot, und ich habe meinen Bruder gerächt.