Die Hexe faßte in die Schürzentasche und holte eine Glasnarzisse hervor. Damit berührte sie den Kopf der Maus.
Tristran blinzelte verschlafen und gähnte. Dann fuhr er sich mit der Hand durch die widerspenstigen braunen Haare und funkelte die Alte wütend an. »Du gemeine alte Vettel…«, begann er.
»Halt du nur dein dummes Mundwerk«, unterbrach Madame Semele ihn mit scharfer Stimme. »Ich hab’ dich sicher und wohlbehalten hierhergebracht, in der gleichen Verfassung, in der ich dich gefunden habe. Ich habe dir zu essen und Unterkunft gegeben, und wenn dir etwas daran nicht gefallen hat – was juckt’s mich? Jetzt verschwinde, ehe ich dich in einen Wurm verwandle und dir den Kopf abbeiße, falls ich nicht aus Versehen den Schwanz erwische. Geh! Husch, husch!«
Tristran zählte bis zehn, dann drehte er sich wenig anmutig um und ging davon. Nach etwa zwölf Metern blieb er neben einem Gebüsch stehen und wartete auf die Sternfrau, die gerade vom Wohnwagen geklettert war und ihm folgte.
»Alles in Ordnung?« fragte er, ehrlich besorgt.
»Ja, danke«, antwortete Yvaine. »Sie hat mir nichts getan. Genaugenommen hat sie, glaube ich, gar nicht bemerkt, daß ich überhaupt da war. Ist das nicht sonderbar?«
Jetzt hatte sich Madame Semele vor den Vogel gesetzt. Auch seinen gefiederten Kopf berührte sie mit ihrer Glasblume, bis der Vogel sich reckte und streckte und sich schließlich in eine junge Frau verwandelte, dem Äußeren nach nicht viel älter als Tristran, mit dunklen, lockigen Haaren und pelzigen Katzenohren. Sie warf Tristran einen Blick zu, und in ihren violetten Augen war etwas, was Tristran sehr, sehr vertraut vorkam, obgleich er sich absolut nicht erinnern konnte, wo er sie schon einmal gesehen hatte.
»Also das ist die wahre Gestalt des Vogels«, sagte Yvaine. »Sie war eine gute Reisegefährtin.« Da bemerkte sie, daß die Silberkette, die den Vogel gefangen gehalten hatte, noch immer da war, auch jetzt, da der Vogel zu einer Frau geworden war; die Kette glitzerte an ihrem Hand- und Fußgelenk, und Yvaine machte Tristran darauf aufmerksam.
»Stimmt«, entgegnete er. »Ich sehe es. Wirklich schrecklich. Aber ich bin nicht sicher, ob wir etwas dagegen unternehmen können.«
Nebeneinander überquerten sie die Wiese in Richtung Maueröffnung. »Zuerst besuchen wir meine Eltern«, erklärte Tristran. »Bestimmt haben sie mich genauso vermißt wie ich sie« – obwohl Tristran, um die Wahrheit zu sagen, auf seiner Reise eigentlich kaum einen Gedanken an seine Eltern verschwendet hatte – »und dann gehen wir zu Victoria Forester und…« Bei diesem »Und« klappte Tristran plötzlich den Mund zu. Denn er brachte seine frühere Idee, die Sternfrau Victoria Forester zu schenken, überhaupt nicht mit seinen gegenwärtigen Gefühlen unter einen Hut – nämlich daß Yvaine nicht ein Ding war, das man von einem zum anderen weiterreichte, sondern in jeder Hinsicht eine richtige, vollständige Person. Aber dennoch war Victoria Forester die Frau, die er liebte.
Schön und gut, aber eins nach dem anderen. Jetzt würde er erst einmal Yvaine ins Dorf bringen und die Ereignisse auf sich zukommen lassen. Er spürte, wie sich seine Stimmung hob, und in seinem Kopf war seine Zeit als Haselmaus bereits nur noch ein Traum, so, als hätte er am Küchenfeuer ein Mittagsschläfchen gehalten. Aber jetzt war er wieder hellwach. In Gedanken konnte er Mr. Bromios’ Premiumbier schon beinahe schmecken; allerdings fiel ihm etwas schuldbewußt ein, daß er doch tatsächlich die Farbe von Victoria Foresters Augen vergessen hatte.
Rot und riesig hing die Sonne hinter den Dächern von Wall, als Tristran und Yvaine die Wiese überquerten und auf den Durchgang in der Mauer hinabblickten. Die Sternfrau zögerte.
»Möchtest du das wirklich?« fragte sie Tristran. »Ich habe kein gutes Gefühl dabei.«
»Du brauchst nicht nervös zu sein«, meinte er beruhigend. »Obwohl es natürlich kein Wunder ist, wenn du aufgeregt bist; ich hab’ auch mindestens hundert Schmetterlinge im Bauch. Aber es wird dir gleich viel bessergehen, wenn du erst im Salon meiner Mutter sitzt und Tee trinkst – na ja, vielleicht trinkst du keinen Tee, aber es wird genug da sein, daß du welchen trinken könntest. Meine Mutter holt ganz bestimmt das gute Porzellan heraus für einen solchen Besuch und zur Feier der Rückkehr ihres Sohnes.« Seine Hand suchte ihre und drückte sie.
Yvaine sah ihn an und lächelte, sanft und wehmütig. »Wohin du gehst…«, flüsterte sie.
Hand in Hand gingen der junge Mann und der gefallene Stern auf die Öffnung der Mauer zu.
KAPITEL 10
Sternenstaub
Gelegentlich spricht man darüber, etwas Großes und Offensichtliches könne genauso leicht vergessen werden wie etwas Kleines und scheinbar Unbedeutendes, wobei die großen Dinge, die man übersieht, oft Probleme bereiten.
Tristran Thorn näherte sich also der Maueröffnung vom Feenland her, zum zweitenmal seit seiner Zeugung vor achtzehn Jahren, neben sich das hinkende Sternmädchen. Ihm schwirrte der Kopf von den Düften und Klängen des Dorfes, in dem er aufgewachsen war, und ihm wurde warm ums Herz. Höflich nickte er den Wachen am Durchgang zu; er kannte beide: Der junge Mann, der untätig von einem Fuß auf den anderen trat und einen Krug Bier trank – sicher Mr. Bromios’ Premium, vermutete Tristran –, war Wystan Pippin, ein ehemaliger Schulkamerad, wenn auch nie Tristrans Freund; der andere, etwas ältere Mann, der nervös an seiner offenbar erloschenen Pfeife sog, war Tristrans früherer Arbeitgeber bei Monday und Brown, Jerome Ambrose Brown, Esquire. Die beiden Männer wandten Tristran und Yvaine den Rücken zu und starrten so resolut in Richtung Dorf, als wäre es eine Sünde, die Vorbereitungen auf der Wiese hinter ihnen auch nur eines kurzen Blickes zu würdigen.
»Guten Abend«, sagte Tristran nun ausgesucht höflich, »guten Abend, Wystan, guten Abend, Mister Brown.«
Erschrocken zuckten die beiden Männer zusammen. Wystan kippte sich sein Bier über die Jacke. Mr. Brown hob seinen Stock und richtete die Spitze nervös auf Tristrans Brust. Wystan Pippin stellte seinen Bierkrug ab, nahm seinen Knüppel zur Hand und blockierte damit die Mauerlücke.
»Bleibt, wo Ihr seid!« rief Mr. Brown und gestikulierte mit seinem Knüppel, als wäre Tristran ein wildes Tier, das ihn jeden Augenblick anspringen könnte.
»Kennt ihr mich nicht mehr?« fragte Tristran lachend. »Ich bin’s, Tristran Thorn.«
Doch Mr. Brown, der, wie Tristran wußte, der Chef der Mauerwache war, dachte gar nicht daran, seinen Stock sinken zu lassen. Er musterte Tristran von oben bis unten, von seinen abgelaufenen Stiefeln bis zu den ungebärdigen Haaren. Dann starrte er in Tristrans sonnengebräuntes Gesicht und meinte unbeeindruckt: »Selbst wenn Ihr dieser Taugenichts Thorn sein solltet«, sagte er, »sehe ich noch lange keinen Grund, Euch durchzulassen. Immerhin sind wir Mauerwächter.«
Tristran blinzelte. »Ich war auch Mauerwächter«, wandte er ein, »und es gibt keine Regeln, Leute aus dieser Richtung nicht passieren zu lassen. Das gilt nur für die andere Richtung, vom Dorf zur Wiese.«
Langsam nickte Mr. Brown. Dann sagte er, betont geduldig, als spräche er zu einem Idioten: »Und wenn Ihr nun tatsächlich Tristran Thorn seid – nur einmal angenommen, um der Diskussion willen, obwohl Ihr ihm nicht ähnlich seht und auch nicht redet wie er –, wie viele Leute habt Ihr in der Zeit, als Ihr hier gelebt habt, von der Wiesenseite her durchgelassen?«
»Naja, soweit ich weiß, keinen«, antwortete Tristran.
Mr. Brown lächelte das gleiche Lächeln wie früher, wenn er Tristran, weil dieser fünf Minuten zu spät gekommen war, den Lohn für den ganzen Vormittag gekürzt hatte. »Genau«, sagte er. »Es gibt keine diesbezügliche Vorschrift, weil es nie geschieht. Niemand von der anderen Seite geht hier durch. Nicht, solange ich im Dienst bin jedenfalls. Also verschwindet jetzt, ehe ich eure Köpfe mit meinem Prügel bearbeite.«