Yvaine drehte sich um, legte die Arme über den Kopf und sagte nichts mehr. Schließlich kam Tristran zu dem Schluß, daß sie wieder eingeschlafen sein mußte, schlüpfte in seine Stiefel, wusch sich das Gesicht und spülte den Mund mit Wasser aus dem Wiesenbach gründlich aus. Dann rannte er Hals über Kopf los, über die Wiese in Richtung Dorf.
An diesem Morgen standen Reverend Myles, der Pfarrer von Wall, und Mr. Bromios, der Gastwirt, Wache. Zwischen ihnen sah Tristran eine junge Frau, die der Wiese den Rücken zuwandte. »Victoria!« rief Tristran voller Freude, aber da drehte sich die junge Dame um, und er erkannte, daß es nicht Victoria Forester war. (Plötzlich erinnerte er sich wieder, daß diese graue Augen hatte. Jawohl, grau waren sie. Wie hatte er das nur vergessen können?) Wer diese junge Frau mit ihrem feinen Häubchen und ihrer feinen Stola sein mochte, wußte Tristran nicht. Aber es traten Tränen in ihre Augen, als sie ihn erblickte.
»Tristran!« rief sie. »Du bist es wirklich! Sie haben gesagt, du wärst hier. Wie konntest du nur? Ach, wie konntest du nur?« Nur allmählich wurde Tristran klar, daß sie tatsächlich ihm Vorwürfe machte.
»Louisa?« sagte er, da er seine Schwester zu erkennen glaubte. »Du bist wahrhaftig ordentlich gewachsen, während ich nicht da war – aus einem kleinen Mädchen ist eine hübsche junge Dame geworden.«
Sie schniefte und schneuzte sich in ein leinenes Spitzentaschentuch, das sie aus dem Ärmel zog. »Und du«, sagte sie, während sie sich die Tränen von den Wangen tupfte, »du hast dich auf deiner Reise in einen wuschelhaarigen verkommenen Zigeuner verwandelt. Aber du siehst gesund aus, und das ist gut. Komm jetzt«, fuhr sie fort und gab ihm mit einem ungeduldigen Winken zu verstehen, er solle endlich die Mauer passieren und ihr folgen.
»Aber die Mauer…« sagte er und beäugte den Gastwirt und den Pfarrer ein wenig nervös.
»Oh, als Wystan und Mister Brown gestern nacht mit ihrer Schicht fertig waren, haben sie sich in die Schankstube der Siebenten Elster zurückgezogen, und dort hat Wystan dann beiläufig erwähnt, daß sie einem völlig zerlumpten Kerl begegnet wären, der behauptete, er wäre du, und wie sie dem Kerl den Durchgang verweigert hätten – wie sie dir den Durchgang versperrt hätten. Als die Neuigkeit unserem Vater zu Ohren kam, ist er gleich in die Elster spaziert und hat den beiden eine solche Standpauke gehalten, daß ich ihn kaum wiedererkannt habe.«
»Einige waren dafür, Euch gleich heute früh zurückkommen zu lassen«, fügte der Pfarrer hinzu, »andere wollten bis Mittag warten.«
»Aber keiner von denen, die Euch warten lassen wollten, hat heute morgen Wachdienst«, ergänzte Mr. Bromios, »was natürlich ein gewisses Maß an Organisation erforderte – und das ausgerechnet an einem Tag, an dem ich mich um den Erfrischungsstand kümmern müßte, möchte ich betonen. Aber es ist schön, Euch wiederzusehen. Kommt, geht hindurch.« Er streckte die Hand aus, und Tristran schüttelte sie herzlich. Dann kam der Pfarrer an die Reihe.
»Tristran«, meinte letzterer, »Ihr habt sicher viele sonderbare Dinge gesehen auf Eurer Reise.«
Einen Moment lang schwieg Tristran nachdenklich. »Ich glaube schon«, antwortete er dann.
»Dann müßt Ihr nächste Woche unbedingt ins Pfarrhaus kommen«, fuhr der Pfarrer fort. »Wir werden Tee trinken, und Ihr müßt uns alles ausführlich erzählen. Wenn Ihr Euch wieder ein wenig eingelebt habt. Ja?« Und Tristran, der immer ziemlichen Respekt vor dem Pfarrer gehabt hatte, konnte nur nicken.
Louisa seufzte ein bißchen theatralisch und marschierte in zügigem Tempo los, in Richtung Zur Siebenten Elster. Tristran rannte ein Stück über das Kopfsteinpflaster, um sie einzuholen, dann ging er neben ihr her.
»Es tut mir im Herzen wohl, dich wiederzusehen, Schwester«, sagte er.
»Wir sind alle ganz krank gewesen vor Sorge um dich«, entgegnete sie ärgerlich, »wegen deiner ganzen Sperenzchen. Du hast mich nicht mal geweckt, um dich von mir zu verabschieden. Vater war zu nichts zu gebrauchen vor lauter Kummer, und an Weihnachten hat er, nachdem wir mit der Gans und dem Plumpudding fertig waren, den Portwein rausgeholt und auf abwesende Freunde getrunken, und Mutter hat herzzerreißend geschluchzt, also habe ich natürlich auch geweint, und dann hat Vater sich die Nase mit seinem besten Taschentuch geputzt, und Großvater und Großmutter Hempstock haben darauf bestanden, sich endlich den Knallbonbons zu widmen und die lustigen Sprüche vorzulesen, aber irgendwie hat das alles nur schlimmer gemacht, und ehrlich gesagt hast du uns Weihnachten gründlich verdorben, Tristran.«
»Das tut mir wirklich leid«, sagte Tristran. »Was machen wir jetzt? Wohin gehen wir?«
»Wir gehen zur Elster«, antwortete Louisa. »Ich dachte, das wäre klar. Mister Bromios hat gesagt, du könntest sein Wohnzimmer benutzen. Da wartet nämlich jemand auf dich und will dich sprechen.« Mehr wollte sie nicht verraten. In der Kneipe erkannte Tristran eine ganze Reihe von Gesichtern, manche Gäste nickten ihm zu oder lächelten, manche nicht, als er neben Louisa durch die Menge schritt und dann die schmale Treppe hinter der Bar in den ersten Stock hinaufstieg. Die Holzdielen knarrten unter ihren Schritten.
Louisa bedachte Tristran weiterhin mit wütenden Blicken. Doch dann begann plötzlich ihre Unterlippe zu zittern. Zu seiner großen Überraschung fiel sie Tristran um den Hals und drückte ihn so fest an sich, daß er kaum noch Luft bekam. Ohne ein weiteres Wort floh sie dann die Treppe hinunter.
Tristran klopfte an die Tür zum Wohnzimmer und trat ein. Das Zimmer war mit einer Reihe ungewöhnlicher Objekte dekoriert, mit kleinen antiken Statuen und Tontöpfen. An der Wand hing ein Stock, der mit Efeu umwunden war – beziehungsweise mit einem dunklen Metall, das kunstvoll als Efeu geformt worden war. Abgesehen davon hätte es das Wohnzimmer eines x-beliebigen Junggesellen sein können, der viel zu tun hatte und selten Zeit fand zum Ausruhen. Es gab eine kleine Chaiselongue, einen niedrigen Tisch, auf dem ein abgenutztes, in Leder gebundenes Exemplar von Laurence Sternes Predigten lag, ein Klavier und mehrere Ledersessel. In einem davon saß Victoria Forester.
Langsam und mit festen Schritten ging Tristran zu ihr und ließ sich vor ihr auf ein Knie nieder, wie er es einst im Schlamm des Feldwegs getan hatte.
»Oh, tu das bitte nicht«, sagte Victoria Forester unbehaglich. »Bitte steh auf. Setz dich doch. In den Stuhl da drüben, ja? So ist’s besser.« Die Morgensonne fiel durch die hohen Spitzengardinen und von hinten auf Victorias kastanienbraunes Haar, so daß ihr Gesicht wie von einem goldenen Kranz umrahmt war. »Sieh nur«, meinte sie, »du bist ja ein richtiger Mann geworden«, staunte sie. »Und deine Hand! Was hast du mit deiner Hand angestellt?«
»Ich habe sie mir verbrannt«, antwortete Tristran. »In einem Feuer.«
Zuerst sagte sie nichts dazu, sondern starrte ihn nur an. Dann lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück und sah auf den Stock an der Wand oder vielleicht auch zu einer von Mr. Bromios kleinen Statuen, und sagte: »Ich habe dir einiges zu sagen, Tristran, und es fällt mir nicht leicht. Ich wäre dir dankbar, wenn du mich nicht unterbrichst, bis ich fertig bin. Also. Das erste und vielleicht wichtigste: Ich möchte mich bei dir entschuldigen. Meine Dummheit, meine Unbedachtheit hat dich in dieses Abenteuer getrieben. Ich dachte, du machtest Witze… nein, keine Witze. Ich dachte, du wärst zu feige, viel zu kindisch, um deinen großen Worten Taten folgen zu lassen. Erst als du weg warst, als die Tage vergingen und du nicht zurückkamst, da wurde mir klar, daß du es ernst gemeint hast, aber da war es natürlich zu spät.
Jeden Tag habe ich mit der Angst gelebt, du würdest nicht zurückkommen und ich… ich hätte dich in den Tod geschickt.«