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»Nein«, unterbrach Tristran ihren Redeschwall.

»Nein?« wiederholte seine Mutter verwundert.

»Nein«, bestätigte Tristran. »Du kannst meinetwegen in einer Sänfte reisen, mit Elefanten, Kamelen und allem, was du sonst noch möchtest, Mutter. Aber Yvaine und ich gehen unseren eigenen Weg und zwar in unserem eigenen Tempo.«

Lady Una holte tief Luft, und Yvaine dachte, dieser Streit würde sich zu etwas auswachsen, bei dem sie lieber nicht anwesend sein wollte. Deshalb stand sie auf und entschuldigte sich, sie wolle ein Stück Spazierengehen, werde sich jedoch nicht zu weit entfernen und bald zurück sein. Tristran blickte sie flehend an, aber Yvaine schüttelte den Kopf: Dies war sein Kampf, er mußte ihn gewinnen, und er würde besser kämpfen können, wenn sie nicht dabei war.

So hinkte sie durch den dämmrig werdenden Markt. An einem Zelt, aus dem man Musik und Applaus hörte und ein warmes Licht wie Honig in die Dunkelheit strömte, machte sie halt. Sie lauschte der Musik und hing ihren Gedanken nach. Nach einer Weile kam eine gebeugte, weißhaarige alte Frau auf sie zu und bat sie, sich eine Weile zu ihr setzen und sich mit ihr unterhalten zu dürfen.

»Worüber denn?« fragte die Sternfrau.

Die alte Frau, die vom Alter geschrumpft und kaum größer war als ein Kind, hielt mit rheumatischen Fingern einen Stock umklammert, so kurz und krumm wie sie selbst. Mit einem normalen und einem milchigen Auge starrte sie zu der Sternfrau empor und antwortete: »Ich bin gekommen, um dein Herz zu holen.«

»Ach wirklich?« entgegnete der Stern.

»Jawohl«, bekräftigte die alte Frau. »Ich hatte es schon beinahe, dort oben in den Bergen.« Sie kicherte tief in der Kehle bei dieser Erinnerung. »Weißt du nicht mehr?« Auf dem Rücken trug sie wie einen Buckel einen großen Rucksack. Aus dem Sack ragte ein spiralförmiges Elfenbeinhorn, und Yvaine wußte sofort, wo sie dieses Horn schon einmal gesehen hatte.

»Ach, Ihr wart das?« fragte der Stern die verschrumpelte Alte. »Ihr wart die Frau mit den Messern?«

»Hmmm. Das war ich. Aber ich habe meine ganze Jugend verschwendet, die ich mir auf die Reise mitgenommen hatte. Für jede Zauberei mußte ich ein wenig davon bezahlen, und jetzt bin ich älter, als ich es jemals war.«

»Wenn Ihr mich anfaßt«, sagte der Stern, »wenn Ihr auch nur einen Finger an mich legt, werdet Ihr es ewig bereuen.«

»Falls du je so alt wirst wie ich«, erwiderte die alte Frau, »wirst du alles wissen, was es über Reue zu wissen gibt, und du wirst auch wissen, daß ein bißchen mehr oder weniger auf lange Sicht keinen Unterschied macht.« Sie schnüffelte. Früher einmal war ihr Kleid leuchtend rot gewesen, aber im Lauf der Jahre war es oft geflickt und ausgebessert worden und die Farbe verblichen. An einer Seite hing es über die Schulter herunter und gab den Blick auf eine dicke häßliche Narbe frei. »Aber eins möchte ich von dir wissen: Warum kann ich dich in meinen Gedanken nicht mehr finden? Du bist zwar noch da, aber nur wie ein Geist, ein Windhauch, mehr nicht. Vor kurzem hast du – oder vielmehr dein Herz – in meinem Geist geglüht wie ein silbernes Feuer. Doch nach der Nacht im Wirtshaus ist das Bild fleckig und unscharf geworden, und jetzt sehe ich es gar nicht mehr.«

Yvaine merkte, daß sie nichts weiter als Mitleid empfand für diese Kreatur, die ihren Tod wollte, und deshalb antwortete sie: »Könnte es sein, daß das Herz, das Ihr sucht, mir nicht mehr gehört?«

Die Alte hustete. Ihr ganzer Körper bebte und krümmte sich zusammen vor Anstrengung.

Geduldig wartete Yvaine, bis sie fertig war, dann sagte sie: »Ich habe mein Herz jemandem geschenkt.«

»Dem Jungen? Dem im Wirtshaus? Mit dem Einhorn?«

»Ja.«

»Du hättest es mir damals geben sollen, für meine Schwestern und mich. Wir hätten wieder jung sein können, gut und gern bis ins nächste Zeitalter hinein. Dein Junge wird es brechen, er wird es achtlos behandeln oder gar verlieren. Das tun sie doch alle.«

»Trotzdem«, entgegnete der Stern, »trotzdem gehört es ihm. Ich hoffe, Eure Schwestern werden nicht allzu böse auf Euch sein, wenn Ihr ohne es zurückkehrt.«

In diesem Augenblick kam Tristran über die Wiese zurück und ging auf Yvaine zu. Er nahm ihre Hand und nickte der alten Frau kurz zu. »Es ist alles geklärt«, sagte er. »Und alles in Ordnung.«

»Und die Sänfte?«

»Oh, Mutter wird per Sänfte reisen. Ich mußte ihr versprechen, daß wir früher oder später nach Stormhold kommen, aber wir können uns unterwegs ruhig Zeit lassen. Ich denke, wir sollten zwei Pferde kaufen und uns die Sehenswürdigkeiten anschauen.«

»Und deine Mutter war damit zufrieden?«

»Zu guter Letzt schon«, antwortete er heiter. »Übrigens – tut mir leid, euch unterbrochen zu haben.«

»Wir sind fast fertig«, meinte Yvaine und wandte sich wieder an die alte Frau.

»Meine Schwestern werden hart und grausam zu mir sein«, sagte die alte Hexenkönigin. »Aber ich weiß deine Freundlichkeit zu schätzen. Du hast ein gutes Herz, Kind. Schade, daß ich es nicht kriegen kann.«

Der Stern beugte sich herab und küßte die alte Frau auf ihre faltige Wange und spürte, wie die Haare darauf ihre weichen Lippen kratzten.

Dann wanderten die Sternfrau und ihr Geliebter davon in Richtung Mauer. »Wer war die Alte?« wollte Tristran wissen. »Sie kam mir irgendwie bekannt vor. War irgendwas los?«

»Aber nein«, antwortete sie. »Ich kannte sie von unterwegs.«

Hinter ihnen lagen die Lichter des Markts, die Laternen und Kerzen und Hexenlichter und der Feenglimmer, wie ein Traum des Nachthimmels, der auf die Erde gekommen war. Vor ihnen auf der anderen Seite der Wiese, auf der anderen Seite der Mauerlücke, lag das Dorf Wall. Öllampen und Gaslaternen und Kerzen schimmerten in den Fenstern der Häuser. Für Tristran erschienen sie so fern und unerforschlich wie die Welt aus Tausendundeiner Nacht.

Er blickte über die Lichter von Wall und wußte plötzlich mit absoluter Sicherheit, daß es das letzte Mal sein würde. Eine Weile starrte er sie schweigend an, die Sternschnuppe dicht neben ihm. Dann drehte er sich um, und gemeinsam wanderten sie gen Osten.

EPILOG

In dem es mehrere Enden gibt

Manche hielten den Tag, an dem Lady Una – seit langem verschwunden und totgeglaubt (eine Hexe hatte sie als Kind gestohlen) – ins Bergland zurückkehrte, für einen der wichtigsten in der Geschichte von Stormhold. Noch Wochen nachdem die Sänfte in einer von drei Elefanten angeführten Prozession eingetroffen war, gab es Feste und Feuerwerk und (offizielle und inoffizielle) Vergnügungen.

Die Freude der Einwohner von Stormhold und seinen Herrschaftsgebieten erreichte einen bis dato unbekannten Höhepunkt, als Lady Una verkündigte, sie habe einen Sohn geboren, der, da ihre beiden letzten Brüder nicht auffindbar und höchstwahrscheinlich tot waren, der nächste Thronerbe sei. Genaugenommen, so erklärte sie dem Volk, trage er bereits die Macht von Stormhold um den Hals.

Schon bald würden er und seine Braut hier eintreffen, nur könne Lady Una leider das genaue Datum ihrer Ankunft nicht angeben. Das schien sie ziemlich zu ärgern. Sie verkündete ferner, daß sie in der Zwischenzeit Stormhold selbst regieren werde. Was sie auch tat, und zwar sehr gut, und in den Gebieten auf und um Mount Huon lebten ihre Untertanen glücklich und in Wohlstand.