»Sie wissen, was sie zu tun haben?«
»Ja.« Bashere seufzte. »Aber ich glaube nicht, dass sie es tun werden. Wenn Ihr mich fragt, werden sie sofort nach unserer Abreise aus der Stadt flüchten wie Diebe aus dem Gefängnis, sobald die Wärter verschwunden sind.«
Rand antwortete nicht darauf. Er hatte befohlen, dass der Kaufmannsrat neue Mitglieder erwählte und dann einen König suchte. Aber vermutlich hatte Bashere recht. Es gab bereits die ersten Berichte aus anderen Städten entlang der Küste, wo Rand seinen Aiel den Rückzug befohlen hatte. Die Verantwortlichen verschwanden und flohen, bevor die Seanchaner ihre befürchteten Angriffe durchführten.
Als Königreich war Arad Doman erledigt. Es würde bald zusammenbrechen wie ein Tisch, auf dem man zu viel abgeladen hatte. Das ist nicht mein Problem, dachte Rand und vermied es, die Leute anzusehen. Ich habe getan, was ich konnte.
Das entsprach nicht der Wahrheit. Zwar hatte er den Domani helfen wollen, aber die wahren Gründe für sein Kommen war der Wunsch gewesen, sich mit den Seanchanern zu einigen, herauszufinden, was mit dem König geschehen war, und Graendal aufzuspüren. Ganz zu schweigen davon, so viel von den Grenzlanden zu sichern, wie er nur konnte.
»Was gibt es Neues von Ituralde?«, fragte er.
»Ich fürchte, nichts Gutes«, sagte Bashere grimmig. »Er hatte ein paar Scharmützel mit den Trollocs, aber das wusstet Ihr ja bereits. Das Schattengezücht zieht sich immer schnell zurück, aber er warnte, dass sich dort etwas versammelt. Seine Späher haben Anzeichen einer Streitmacht entdeckt, die groß genug ist, um ihn zu überrennen. Falls sich die Trollocs dort zusammenrotten, dann versammeln sie sich garantiert auch an anderen Orten. Vor allem am Tarwin-Pass.«
Verflucht sollen diese Grenzländer seinl, dachte Rand. Ich werde etwas wegen ihnen unternehmen müssen. Bald. Er erreichte den Platz, zügelte Tai’daishar und nickte Flinn und Naeff zu.
Auf sein Signal hin öffnete jeder von ihnen auf dem Stadtplatz ein großes Wegetor. Rand hatte direkt von Lady Chadmars Anwesen aufbrechen wollen, aber so hätte sich nur ein Dieb davongestohlen, heute hier und morgen fort. Er würde diese Menschen zumindest sehen lassen, dass er ging und man sie sich selbst überließ.
Sie drängten sich auf den Bürgersteigen, es waren beinahe genauso viel wie bei seiner Ankunft in der Stadt. Falls möglich waren sie noch stummer, als sie seinerzeit gewesen waren. Frauen in eng anliegenden Gewändern, Männer in bunten Mänteln und Spitzenmanschetten. Viele hatten nicht die kupferne Hautfarbe der Domani. Mit dem Versprechen auf Nahrung hatte Rand so viele in die Stadt gelockt.
Zeit zu gehen. Er ritt auf eines der Wegetore zu, aber da rief eine Stimme: »Lord Drache!«
Die Stimme war leicht zu hören, da die Menge so still war. Rand drehte sich auf seinen Sattel um und hielt nach dem Rufer Ausschau. Das war ein drahtiger Mann in einem roten Mantel, der an der Taille zugeknöpft war und sich zur Brust hin zu einem V öffnete, um das darunter getragene Rüschenhemd zu zeigen. Seine goldenen Ohrringe funkelten, als er sich mit den Ellbogen einen Weg durch die Menge bahnte. Die Aiel fingen ihn ab, aber Rand erkannte ihn als einen der Hafenmeister. Er gab den Aiel ein Zeichen, den Mann - er hieß Iralin - durchzulassen.
Iralin eilte auf Tai’daishar zu. Für einen Domani war er uncharakteristisch glatt rasiert, und seine Augen waren vom Schlafmangel gerötet.
»Mein Lord Drache«, sagte der Mann mit gedämpfter Stimme, als er neben Rands Pferd stand. »Die Nahrung! Sie ist verdorben!«
»Welche Nahrung?«, fragte Rand.
»Alles«, erwiderte der Mann mit angespannter Stimme. »Jedes Fass, jeder Sack, alles in unseren Lagerhäusern und auf den Schiffen des Meervolks. Mein Lord! Es ist nicht nur voller Getreidekäfer. Es ist schwarz und bitter geworden, und man wird krank davon, wenn man es isst!«
»Alles?«, wiederholte Rand fassungslos.
»Alles«, sagte Iralin leise. »Aberhunderte von Fässern. Das geschah plötzlich, in einem Augenblick. In dem einen Moment war alles in Ordnung, im nächsten … Mein Lord, so viele Leute sind in die Stadt gekommen, weil sie hörten, dass wir Nahrung haben! letzt haben wir nichts. Was sollen wir tun?«
Rand schloss die Augen. »Mein Lord?«, fragte Iralin.
Rand öffnete die Augen und trieb Tai’daishar an. Er ließ den Hafenmeister mit offen stehendem Mund hinter sich stehen und passierte das Wegetor. Er konnte nichts tun. Er würde nichts mehr tun.
Die kommende Hungersnot verdrängte er aus seinen Gedanken. Es war schlimm, wie leicht ihm das fiel.
Bandar Eban verschwand, die viel zu stummen Menschen verschwanden. In dem Augenblick, in dem er durch das Wegetor ritt, brach die dort wartende Menge in lauten Jubel aus. Der Kontrast war so unerwartet, dass Rand Tai’daishar wie benommen zügelte.
Vor ihm breitete sich Tear aus. Das war eine der großen Städte, die sich über ein breites Gebiet ausbreitete, und das Wegetor öffnete sich direkt auf Feasters Lauf, einen der Hauptplätze der Stadt. Eine kurze Reihe Asha’man salutierten, indem sie die Faust zur Brust führten. Rand hatte sie früher am Morgen losgeschickt, um die Stadt auf seine Ankunft vorzubereiten und den Platz für Wegetore zu räumen.
Die Menschen jubelten weiter. Tausende hatten sich versammelt, und auf Dutzenden Stangen wehte das Banner des Lichts. Die Bewunderung traf Rand wie eine Welle des Tadels. Eine solche Verehrung verdiente er nicht. Nicht nach dem, was er in Arad Doman getan hatte.
Ich muss weitergehen, dachte er und trieb Tai’daishar wieder an. Hier lief sein Pferd auf Pflastersteinen und nicht auf vom Regen durchfeuchteten Erdboden. Bandar Eban war eine große Stadt, aber mit Tear konnte es sich nicht vergleichen. Straßen schlängelten sich durch die Landschaft und wurden von Gebäuden gesäumt, die Landbewohner als dicht zusammengedrängt bezeichnet hätten, die für Tairener aber ganz normal waren. Auf vielen der mit Schiefer oder Schindeln gedeckten Dächer hockten Männer und Jungen in der Hoffnung, einen besseren Blick auf den Lord Drachen erhaschen zu können. Der hier verwendete Stein war etwas heller als in Bandar Eban, und er stellte das bevorzugte Baumaterial dar. Vielleicht lag das an der Festung, die sich hoch über der Stadt erhob. Der Stein von Tear, wie man sie nannte. Das noch immer eindrucksvolle Relikt eines vergangenen Zeitalters.
Rand ritt im Schritttempo, Bashere und Min in seiner unmittelbaren Nähe. Die Menge brüllte. So laut. In der Nähe fing der Wind zwei wehende Fahnen und ließ sie sich ineinander verheddern. Die Männer, die sie im vorderen Teil der Menge hochhielten, senkten sie und versuchten, sie freizubekommen, aber sie hatten sich fest verknotet. Rand passierte sie, ohne ihnen große Aufmerksamkeit zu schenken. Längst verspürte er keine Überraschung mehr darüber, was seine Natur als Ta’veren alles bewirkte.
Überraschend fand er dann allerdings doch die Anwesenheit von so vielen Fremden in der Menge. Das war an sich nicht ungewöhnlich; Tear hieß alle willkommen, die aus dem Osten Gewürze und Seide brachten, oder Porzellan vom Meer, Getreide oder Tabak aus dem Norden, und Geschichten von allen Orten. Allerdings war Rand nicht verborgen geblieben, dass ihm Ortsfremde bei seinen Besuchen nur wenig Beachtung schenkten - ganz egal, um welche Stadt es sich handelte. Das traf sogar dann zu, wenn diese Fremden aus Ländern kamen, die er erobert hatte. Hielt er sich in Cairhien auf, schwärmten die Cairhiener für ihn - war er aber in Illian, mieden ihn die Cairhiener. Vielleicht gefiel es ihnen ja nicht besonders, dass es sich bei ihrem Herrscher und dem Herrscher ihres Feindes um ein und denselben Mann handelte.
Hier hatte er allerdings keine Mühe, die Ausländer zu zählen: da war Meervolk mit seiner dunklen Haut und der locker sitzenden, hellen Kleidung; da waren Murandianer mit ihren gewachsten Schnurrbärten und den langen Mänteln; da waren bärtige Illianer mit hochgeschlagenem Kragen; da waren blasse Cairhiener mit Streifen auf der Kleidung. Und es waren Männer und Frauen in schlichter andoranischer Wolle vertreten. Von den Ausländern jubelten deutlich weniger als bei den Einheimischen, aber sie waren da und sahen aufmerksam zu. Bashere musterte die Menge.