Sie hatten sie nicht ernst genug genommen. Das war ihr erster Fehler gewesen. Der zweite war schlimmer. In der Vergangenheit hatte es in der Tat Phasen gegeben, in denen die Anführerinnen der Ajahs die Aes Sedai angeführt hatten und nicht der Amyrlin-Sitz oder der Saal der Burg. Natürlich hatte sich das hinter den Kulissen abgespielt, aber es war sehr erfolgreich gewesen. Allein die Amtszeit von Cemaile Sorenthaine wäre ein völliges Desaster gewesen, hätten sich die Anführerinnen der Ajahs nicht eingemischt.
Die derzeitige Situation war ähnlich erschienen. Die Tage vor der Letzten Schlacht waren eine ganz besondere Zeit, die eine ganz besondere Aufmerksamkeit erforderte. Aufmerksamkeit von Frauen mit unerschütterlichem rationalem Verstand und großer Erfahrung. Frauen, die selbstbewusst mit einer Stimme sprechen und den besten Kurs entscheiden konnten, ohne sich dabei in die Debatten zu verstricken, die es im Saal gab.
»An welchem Punkt haben wir uns geirrt, was meint ihr?«, fragte Serancha leise.
Die Frauen schwiegen. Keine von ihnen wollte offen zugeben, dass der Plan nach hinten losgegangen war. Adelorna lehnte sich mit verschränkten Armen zurück; in ihr brodelte es noch immer, aber wenigstens gab sie keine Beschuldigungen mehr von sich.
»Es war Elaida«, sagte Ferane. »Sie hat nie besonders … logisch gehandelt.«
»Sie war eine verfluchte Katastrophe, das war sie«, murmelte Adelorna finster.
»Es war mehr als das«, gab jesse zu. »Einfach Sitzende zu bestimmen, die wir kontrollieren konnten, um die zu ersetzen, die zu den Rebellen geschickt wurden, war eine gute Entscheidung, aber vielleicht war das zu offensichtlich. Die Frauen unserer eigenen Ajahs wurden misstrauisch; mir sind mehrere Kommentare von Frauen der Braunen bekannt. Wir sind keineswegs so unauffällig, wie es manche gern hätten.«
Serancha nickte. »Es roch nach Verschwörung«, sagte sie. »Das untergrub das Vertrauen der Frauen. Und dann waren da die Rebellen. Viel schwerer zu kontrollieren als gedacht.«
Die Frauen nickten. Wie auch jesse waren sie alle von der Annahme ausgegangen, dass die Rebellen mit der richtigen Anleitung den Rückweg zur Burg finden und um Vergebung bitten würden. Diese Spaltung hätte mit keinem größeren Schaden als dem einen oder anderen gekränkten Ehrgefühl enden sollen.
Aber sie hatten nicht damit gerechnet, wie zäh oder effektiv die Rebellen sein würden. Ein richtiges Heer, das mitten in einem Schneesturm am Ufer von Tar Valon auftauchte? Angeführt von einem der größten militärischen Genies dieses Zeitalters? Mit einer neuen Amyrlin und einer bestürzend effektiven Belagerung? Wer hätte mit so etwas rechnen sollen? Und einige der von ihnen ausgeschickten Sitzenden hatten angefangen, die Rebellen mehr zu unterstützen als die Weiße Burg!
Wir hätten niemals zulassen dürfen, dass Elaida die Blaue Ajah auflöst, dachte Jesse. Wäre das nicht geschehen, wären die Blauen vielleicht zur Rückkehr bereit gewesen. Aber das war eine solche Demütigung, dass sie sich stur stellten. Allein das Licht wusste, wie gefährlich das war; die historischen Aufzeichnungen waren voller Berichte, wie hartnäckig die Blauen sein konnten, um ihren Willen durchzusetzen, vor allem, wenn man sie in eine Ecke gedrängt hatte.
»Ich glaube, es ist Zeit zuzugeben, dass keine Hoffnung mehr besteht, unsere Pläne zu retten«, sagte Suana. »Stimmen mir da alle zu?«
»Ich stimme zu«, sagte Adelorna.
Eine Schwester nach der anderen nickte, Jesse eingeschlossen. Selbst in diesem Zimmer fiel es schwer, die Schuld einzugestehen. Aber es war Zeit loszulassen und mit dem Wiederaufbau zu beginnen.
»Das bringt aber seine eigenen Probleme mit sich«, sagte Serancha, deren Stimme nun ruhiger klang. Auch die anderen Frauen sahen nun etwa selbstsicherer aus. Sie vertrauten einander nicht, das tat keine der fünf, aber sie standen näher davor als jede andere Gruppierung im Saal, die über etwas Autorität verfügte.
»Man muss mit Sorgfalt handeln«, fügte Ferane hinzu. »Die Spaltung muss beendet werden.«
»Die Rebellion richtete sich gegen Elaida«, sagte Adelorna.
»Wenn sie nicht länger die Amyrlin ist, gegen wen soll man da noch rebellieren?«
»Also geben wir sie auf?«, fragte Jesse.
»Sie verdient es«, sagte Adelorna. »Sie hat stur darauf beharrt, dass die Seanchaner keine Bedrohung darstellen. Nun, jetzt zahlt sie selbst für ihre Dummheit.«
»Elaida ist nicht mehr zu retten«, fügte Ferane hinzu. »Der Saal hat das bereits besprochen. Die Amyrlin ist irgendwo in einer Horde seanchanischer Gefangener verschwunden, und wir haben weder die Möglichkeiten noch die Informationen für eine Rettungsaktion.«
Ganz zu schweigen davon, dass wir nicht das geringste Verlangen danach verspüren, fügte Jesse in Gedanken hinzu. Viele der Sitzenden, die diese Argumente vor dem Saal zur Sprache gebracht hatten, waren diejenigen gewesen, die Elaida zur Buße geschickt hatte. Jesse gehörte nicht dazu, aber sie vertrat ebenfalls die Ansicht, dass Elaida es nicht anders verdient hatte, und sei es auch nur für die Weise, wie sie die Ajahs aufeinander gehetzt hatte.
»Dann brauchen wir einen Ersatz«, sagte Serancha. »Aber wen?«
»Es muss eine starke Person sein«, meinte Suana. »Aber sie muss vorsichtig sein, nicht so wie Elaida. Jemand, um den sich die Schwestern scharen können.«
»Wie wäre es mit Saerin Asnobar?«, fragte Jesse. »In letzter Zeit hat sie ungewöhnliche Weisheit bewiesen, und sie ist allgemein beliebt.«
» Natürlich müsst Ihr eine Braune wählen «, sagte Adelorna.
»Und warum nicht?« Jesse war sprachlos. »Ich glaube, ihr alle habt gehört, wie erfolgreich sie vergangene Nacht während des Angriffs das Kommando übernommen hat?«
»Seaine Herimon hat ihren eigenen Widerstand angeführt«, sagte Ferane. »Ich bin der Meinung, es ist die Zeit für eine Frau als Anführerin gekommen, die sich nicht von ihren Gefühlen und ihrem Temperament leiten lässt. Jemand, der für eine rationale Führung sorgen kann.«
»Unfug«, sagte Suana. »Die Weißen sind zu gefühllos; wir wollen die Schwestern nicht entfremden, wir wollen sie zusammenbringen. Sie heilen! Eine Gelbe wäre da …«
»Ihr alle vergesst da etwas«, warf Serancha ein. »Was wird im Augenblick gebraucht? Eine Aussöhnung. Die Graue Ajah hat Jahrhunderte mit der Kunst der Verhandlung zugebracht. Wer könnte besser mit einer gespaltenen Burg und dem Wiedergeborenen Drachen umgehen?«
Adelorna umfasste die Armlehnen ihres Stuhls. Auch bei den anderen wuchs die Anspannung. Als Adelorna den Mund öffnete, um etwas zu sagen, kam Jesse ihr zuvor.
»Es reicht!«, rief sie aus. »Wollen wir uns bloß streiten, so wie es der Saal den ganzen Morgen lang getan hat? Jede Ajah preist ihre eigenen Mitglieder an, und die anderen stimmen gemeinsam dagegen?«
Wieder kehrte Schweigen in den Raum ein. Es stimmte; der Saal hatte stundenlang getagt und nur eine kurze Pause gemacht. Nicht eine Ajah war auch nur nahe dran, genug Unterstützung für eine ihrer Kandidatinnen zu bekommen. Die Sitzenden würden niemanden akzeptieren, der nicht aus ihrer eigenen Ajah kam; dazu gab es zu viele Animositäten zwischen ihnen. Beim Licht, was für ein Durcheinander!
»Idealerweise sollte es eine von uns fünf sein«, meinte Ferane. »Das würde Sinn machen.«
Die fünf Frauen sahen einander an, und Jesse konnte den anderen die Antwort darauf von den Augen ablesen. Sie waren die Anführerinnen der Ajahs, die mächtigsten Frauen auf der Welt. Im Augenblick war ihre Macht ausgeglichen, und auch wenn sie einander mehr vertrauten als anderen, würde keine von ihnen jemals zulassen, dass man die Anführerin einer anderen Ajah auf den Amyrlin-Sitz erhob. Es würde dieser Frau viel zu viel Macht in die Hand geben. Nach dem Scheitern ihres Plans bröckelte das Vertrauen.