»Ja«, sagte Egwene. »Ich weiß, dass wir nicht gern über sie sprechen, aber kann eine von uns ehrlich behaupten, dass die Schwarze Ajah nicht existiert? Könnt Ihr die Eide befolgen und sagen, dass Ihr nie die Möglichkeit - ja selbst die Wahrscheinlichkeit - in Betracht gezogen habt, dass Schattenfreunde unter uns weilen?«
Niemand wagte es. Trotz der frühen Stunde fühlte sich das Zelt heiß an. Stickig. Natürlich schwitzte keine von ihnen - sie kannten alle den uralten Trick, wie man das umging.
»Ja«, sagte Egwene. »Es ist beschämend, aber es ist eine Wahrheit, die wir als die Anführer unserer Schwesternschaft zugeben müssen. Nicht in der Öffentlichkeit, aber unter uns selbst lässt sich das nicht vermeiden. Ich habe erlebt, was Misstrauen und politisches Taktieren unter Menschen anrichten können. Ich werde nicht zulassen, dass uns dieselbe Krankheit ansteckt. Wir gehören verschiedenen Ajahs an, aber wir sind vereint in unserem Ziel. Wir müssen wissen, dass wir einander bedingungslos vertrauen können, weil es auf dieser Welt nur wenig gibt, dem man vertrauen kann.«
Egwene schaute auf den Eidstab in ihrer Hand, den sie sich in aller Frühe von Saerin geholt hatte. Sie strich mit dem Daumen darüber. Ich wünschte, du hättest ihn bei deinem Besuch finden können, Verin, dachte sie. Vielleicht hätte er dich nicht gerettet, aber ich hätte gern den Versuch unternommen. Ich könnte deine Hilfe brauchen.
Sie sah wieder auf. »Ich bin keine Schattenfreundin«, verkündete sie dem Raum. »Und ihr wisst, dass das keine Lüge sein kann.«
Die Sitzenden sahen verwirrt aus. Nun, sie würden es bald verstehen.
»Der Zeitpunkt ist gekommen, dass wir uns selbst beweisen«, fuhr Egwene fort. »Kluge Frauen in der Weißen Burg sind auf diese Idee gekommen, und ich beabsichtige, das auszudehnen. Jede von uns wird nacheinander den Eidstab dazu benutzen, sich von den Drei Eiden zu befreien, dann wird sie sie erneut leisten. Sobald wir alle gebunden sind, werden wir versprechen können, dass wir keine Diener des …«
Sheriam umarmte die Quelle. Damit hatte Egwene gerechnet. Sie rammte eine Abschirmung zwischen Sheriam und die Quelle und ließ die Frau aufkeuchen. Berana schrie entsetzt auf, und mehrere der Frauen umarmten die Quelle und schauten sich hektisch um.
Egwene erwiderte Sheriams Blick. Das Gesicht der Frau war beinahe so rot wie ihr Haar, und ihre Atmung hatte sich beschleunigt. Wie ein in die Falle gegangenes Kaninchen, dessen Bein in der Schlinge steckte und dessen Augen vor Furcht weit aufgerissen waren. Sie hielt ihre verbundene Hand umklammert.
Oh, Sheriam, dachte Egwene. Ich hatte so gehofft, dass sich Verin mit dir irrt.
»Egwene?«, fragte Sheriam voller Unbehagen. »Ich wollte bloß…«
Egwene trat vor. »Sheriam, seid Ihr eine Schwarze Ajah?«
»Was? Natürlich nicht!«
» Habt Ihr Umgang mit den Verlorenen?«
»Nein!«, sagte Sheriam und sah sich hektisch nach allen Seiten um.
»Dient Ihr dem Dunklen König?«
» Nein!«
»Hat man Euch von Euren Eiden entbunden?«
» Nein!«
»Habt Ihr rotes Haar?«
»Nein, natürlich nicht, wie kommt Ihr …« Sie erstarrte. Und vielen Dank für diesen Trick, Verin, dachte Egwene und seufzte in Gedanken.
Im Zelt wurde es sehr, sehr still.
»Ich habe mich natürlich versprochen«, sagte Sheriam und schwitzte nervös. »Ich wusste nicht, welche Frage ich da beantworte. Natürlich kann ich nicht lügen. Keine von uns kann …«
Sie verstummte, als Egwene den Eidstab hob. »Beweist es, Sheriam. Die Frau, die mich in der Burg besuchte, hat mir Euren Namen als Anführerin bei der Schwarzen Ajah genannt.«
Sheriam erwiderte Egwenes Blick. »Nun, dann«, sagte sie leise mit traurigem Blick. »Wer hat Euch denn besucht?«
»Verin Mathwin.«
»Sieh an, sieh an«, sagte Sheriam und setzte sich wieder. »Ich muss sagen, das hätte ich nie von ihr erwartet. Wie ist sie an den Eiden an den Großen Herrn vorbeigekommen?«
»Sie trank Gift«, erwiderte Egwene, und etwas verkrampfte sich in ihrem Herzen.
»Sehr schlau.« Die Frau mit den feuerroten Haaren nickte. »Ich könnte mich nie dazu überwinden, so etwas zu tun. Niemals …«
Egwene webte Fesseln aus Luft und hüllte Sheriam damit ein, dann verknüpfte sie die Gewebe. Sie wandte sich wieder den ungläubigen Frauen zu, die alle totenbleich waren. »Die Welt marschiert zur Letzten Schlacht«, sagte Egwene streng. »Erwartet Ihr, dass unsere Feinde uns in Ruhe gewähren lassen?«
»Wer noch?«, flüsterte Lelaine. »Wer wurde noch erwähnt?«
»Viele andere«, sagte Egwene. »Darunter auch Sitzende.«
Moria sprang auf und rannte zum Ausgang. Sie schaffte keine zwei Schritte. Ein Dutzend verschiedene Schwestern umgaben die ehemalige Blaue mit Abschirmungen und fesselten sie mit Geweben aus Luft. In Sekunden hing sie geknebelt da, und Tränen strömten ihr ovales Gesicht herunter.
Romanda schnalzte mit der Zunge und ging um die Frau herum. »Beide von den Blauen«, bemerkte sie. »Das war eine dramatische Weise, um Enthüllungen zu machen, Egwene.«
»Ihr werdet mich als ›Mutter‹ ansprechen, Romanda«, sagte Egwene und verließ das Podest. »Und es ist keineswegs seltsam, dass unter den Blauen hier eine größere Anzahl betroffen ist, da die ganze Ajah aus der Weißen Burg geflohen ist.« Sie hielt den Eidstab hoch. »Es gibt einen einfachen Grund, warum ich diese Enthüllung auf diese Weise machen musste. Wie hättet Ihr reagiert, hätte ich sie ohne jeden Beweis als Schwarze bezeichnet?«
Romanda nickte. »Ihr habt in beidem recht, Mutter«, gestand sie ein.
»Dann nehme ich an, dass Ihr nichts dagegen habt, die Eide als Erste erneut abzulegen?«
Romanda zögerte nur kurz, warf einen Blick auf die beiden mit Luft gefesselten Frauen. Beinahe jeder im Raum hielt die Quelle fest und betrachtete die anderen, als würden ihnen jeden Augenblick Schlangen statt Haaren wachsen.
Romanda nahm den Eidstab und tat, was man ihr befohlen hatte, entband sich von den Drei Eiden. Offensichtlich war der Prozess schmerzhaft, aber sie beschränkte sich auf einen kontrollierten zischenden Atemzug. Die anderen hielten sorgfältig nach einem Trick Ausschau, aber Romanda begab sich sofort daran, die Eide erneut abzulegen. Sie hielt Egwene den Eidstab hin. »Ich bin keine Schattenfreundin«, sagte sie. »Und ich war es auch nie.«
Egwene nahm den Eidstab entgegen. »Danke, Romanda. Lelaine, möchtet Ihr die Nächste sein?«
»Gern«, sagte die Blaue. Vermutlich verspürte sie das Bedürfnis, ihre Ajah zu verteidigen. Eine Frau nach der anderen entband sich von den Eiden - zischte oder keuchte dabei schmerzerfüllt auf -, schwor erneut und versicherte, keine Schattenfreundin zu sein. Bei jeder stieß Egwene einen stummen Seufzer der Erleichterung aus. Verin hatte zugegeben, dass es Schwestern gab, die sie nicht entlarvt hatte und dass Egwene möglicherweise unter den Sitzenden noch andere Schwarze entdeckte.
Als Kwamesa als Letzte den Eidstab an Egwene zurückgab und versicherte, keine Schattenfreundin zu sein, wich die Anspannung im Raum sichtlich.
»Sehr gut«, sagte Egwene und kehrte wieder ans Ende des Raumes zurück. »Von jetzt an machen wir weiter, als wären wir eine Person. Keinen Zank mehr. Keinen Streit mehr, jede von uns hat nur die besten Interessen der Weißen Burg und der Welt im Sinn. Zumindest wir zwölf haben Vertrauen zueinander.
Eine Säuberung ist nie leicht. Sie ist oft schmerzhaft. Heute haben wir uns gereinigt, aber was wir als Nächstes tun müssen, wird beinahe genauso schmerzhaft.«
»Ihr kennt … die Namen von vielen anderen?«, fragteTakima und sah dieses eine Mal kein bisschen gedankenverloren aus.
»Ja«, sagte Egwene. »Insgesamt über zweihundert, aus jeder Ajah. In diesem Lager sind ungefähr siebzig von ihnen. Ich habe die Namen.« Noch in der Nacht hatte sie Verins Bücher aus ihrem Zimmer geholt. Jetzt lagen sie unsichtbar in ihrem Zelt. »Ich schlage vor, dass wir sie gefangen nehmen, auch wenn das schwierig werden wird, weil wir sie alle möglichst gleichzeitig ergreifen müssen.« Abgesehen von dem Überraschungsmoment würde ihr größter Vorteil die grundsätzlich misstrauische Natur der Schwarzen Ajah sein. Verin und andere Quellen waren davon ausgegangen, dass nur wenige Schwestern der Schwarzen mehr als eine Handvoll anderer Namen kannte. In dem Buch stand eine ganze Abhandlung über die Organisationsstruktur der Schwarzen Ajah und ihrem als »Herzen« bekannten System, die nur wenig miteinander zu tun hatten, um die Tarnung zu wahren. Mit etwas Glück würde dieses System dafür sorgen, dass sie nur langsam begriffen, was mit ihnen geschah.