Sie umrundeten den Hügel und fanden einen staubigen Platz, der von alten Feuergruben vernarbt war, wo Karawanen ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten. Eine kleinere Straße als die, die sie benutzt hatten, wand sich nach Norden und nach Süden. In der Mitte, wo sich die Straßen kreuzten, stand ein einsamer Schienarer und beobachtete die herankommende Prozession. Sein schulterlanges graues Haar fiel lose um ein hageres Gesicht, das zu seiner drahtigen Statur passte. Seine Züge wiesen die Zeichen des Alters auf; seine Augen waren klein, und er schien sie zusammenkneifen zu müssen.
Hurin?, dachte Nynaeve überrascht. Den Diebefänger hatte sie nicht mehr gesehen, seit er sie und andere nach den Geschehnissen in Falme zur Weißen Burg zurückgebracht hatte.
Rand zügelte sein Tier und erlaubte Nynaeve und den Asha’man, ihn einzuholen. Aiel schwärmten aus wie von einem Windstoß umhergewehte Blätter und nahmen aufmerksame Positionen entlang der Kreuzung ein. Nynaeve war sich ziemlich sicher, dass beide Asha’man die Quelle ergriffen hatten, und Rand vermutlich auch.
Hurin trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Er sah noch größtenteils so aus, wie Nynaeve ihn in Erinnerung hatte. Das Haar war etwas grauer, aber er trug die gleiche einfache braune Kleidung mit einem Schwertbrecher und einem Kurzschwert am Gürtel. Er hatte ein Pferd an einen in der Nähe liegenden Ast gebunden. Die Aiel musterten es misstrauisch, sowie andere vielleicht ein Rudel Wachhunde beobachtet hätten.
» Was denn, Lord Rand!«, rief Hurin mit unsicherer Stimme. »Ihr seid es! Nun, ich muss schon sagen, Ihr habt es weit gebracht. Schön, Euch …«
Er verstummte, als er vom Boden gehoben wurde. Überrascht ächzte er, als ihn unsichtbare Ströme aus Luft erfassten. Nynaeve unterdrückte ein Schaudern. Würde sie es jemals normal finden, Männer beim Machtlenken zu sehen?
»Wer hat Euch und mich damals verfolgt, Hurin«, rief Rand, »als wir in diesem fernen Schattenland gefangen waren? Welcher Nationalität waren die Männer, die ich mit dem Bogen niederstreckte?«
»Männer?« Hurins Stimme glich einem Quieken. »Lord Rand, an diesem Ort gab es überhaupt keine Menschen! Jedenfalls sind uns außer der Lady Selene keine begegnet. Ich erinnere mich bloß an diese Froschungeheuer, die gleichen, die angeblich diese Seanchaner reiten!«
Rand drehte Hurin in der Luft herum und betrachtete ihn mit einem kalten Blick. Dann lenkte er sein Pferd näher an ihn heran. Nynaeve und die Asha’man folgten seinem Beispiel.
»Ihr glaubt nicht, dass ich das bin, Lord Rand?«, fragte Hurin.
»Heutzutage nehme ich nur wenig für bare Münze«, sagte Rand. »Ich nehme an, die Grenzländer haben Euch geschickt, weil wir uns kennen?«
Hurin nickte. Er schwitzte. Nynaeve verspürte Mitleid mit ihm. Er war Rand völlig ergeben. Bei der Jagd nach Fain und dem Horn von Valere hatten sie viel Zeit miteinander verbracht. Auf der Rückreise nach Tar Valon hatte sie Hurin nur selten davon abhalten können, davon oder von den großen Taten zu erzählen, die Rand vollbracht hatte. Auf diese Weise von dem Mann behandelt zu werden, den er wie einen Helden verehrt hatte, musste schlimm für den schlanken Diebefänger sein.
»Warum nur Ihr allein?«, fragte Rand leise.
Hurin seufzte. »Nun. Sie sagten Euch …« Er zögerte, schien von etwas abgelenkt worden zu sein. Er schnüffelte deutlich hörbar. »Das ist… das ist merkwürdig. So etwas habe ich noch nie zuvor gerochen.«
»Was denn?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Hurin. »Die Luft … sie riecht nach viel Tod, nach viel Gewalt, aber dann wiederum auch nicht. Es ist finsterer. Schrecklicher.« Er schauderte sichtlich. Hurins Fähigkeit, Gewalt riechen zu können, gehörte zu jenen Merkwürdigkeiten, die die Weiße Burg nie hatte erklären können. Es hatte nichts mit der Macht zu tun, war aber offensichtlich auch nicht natürlich.
Rand schien sich nicht dafür zu interessieren, was Hurin da roch. »Erklärt mir, warum sie nur Euch geschickt haben, Hurin.«
»Das wollte ich ja gerade, Lord Rand. Ihr müsst wissen, hier sollen wir über die Bedingungen sprechen.«
»Die Bedingungen, damit eure Heere wieder dorthin zurückmarschieren, wo sie hingehören«, sagte Rand.
»Nein, Lord Rand«, erwiderte Hurin unbehaglich. »Die Bedingungen für das eigentliche Treffen. Ich vermute, da war ihr Brief etwas unklar. Sie sagten, Ihr könntet wütend sein, nur mich hier vorzufinden.«
»Damit befinden sie sich in einem Irrtum«, sagte Rand noch leiser. Nynaeve musste sich anstrengen, ihn zu verstehen.
»Ich verspüre keine Wut mehr, Hurin«, fuhr Rand fort. »Sie hat keinen Nutzen für mich. Warum sollten wir für ein Treffen so etwas wie ›Bedingungen‹ aushandeln? Ich bin davon ausgegangen, dass mein Angebot, nur eine kleine Gruppe mitzubringen, ausreichen sollte.«
»Nun, Lord Rand, wisst Ihr, sie wollen sich wirklich mit Euch treffen. Ich meine, wir sind diesen weiten Weg gekommen - sind den verdammten Winter durchmarschiert, Verzeihung, Aes Sedai. Aber es war ein verdammter Winter! Und er war schlimm, auch wenn er lange gebraucht hat, uns einzuholen. Aber egal, wir haben das getan, um Euch zu finden, Lord Rand. Also seht Ihr, dass sie sich wirklich mit Euch treffen wollen. Unbedingt.«
»Aber?«
»Nun ja, als Ihr das letzte Mal in Far Madding wart, gab es …«
Rand hob nur einen Finger. Hurin verstummte sofort, und alles wurde still. Selbst die Pferde schienen den Atem anzuhalten.
»Die Grenzländer sind in Far Madding?«, fragte Rand. »Ja, Lord Rand.«
»Und sie wollen mich dort treffen?«
»Ja, Lord Rand. Ihr sollt Euch in den Schutz des Wächters begeben, versteht Ihr, und …«
Rand schnitt Hurin mit einer Geste das Wort ab. Einen Augenblick später öffnete sich ein Wegetor. Es führte jedoch nicht direkt nach Far Madding, sondern bloß ein kurzes Stück die Straße hinunter, auf der sie eben noch geritten waren.
Rand ließ Hurin los, bedeutete den Aiel, den Mann auf sein Pferd steigen zu lassen, und trieb Tai’daishar durch das Tor. Was ging hier vor? Alle folgten ihm. Sobald sie das Tor hinter sich gelassen hatten, erschuf Rand ein weiteres Wegetor, das sich auf eine kleine bewaldete Senke hin öffnete. Nynaeve glaubte sie zu erkennen; dort hatten sie nach ihrem Besuch in Far Madding mit Cadsuane gelagert.
Wozu das erste Wegetor?, dachte Nynaeve verwirrt. Und dann begriff sie. Wollte man nur eine kurze Distanz Reisen, musste man sich die Umgebung nicht genau einprägen - und das Reisen an einen Ort vermittelte einem diese Lokalität gut genug, um von dort sofort Wegetore erschaffen zu können.
Indem Rand zuerst nur ein kleines Stück Gereist war, hatte er sich die Umgebung ausreichend genug eingeprägt, um dort Wegetore erschaffen zu können, wo immer er wollte - und sich die Zeit gespart, die Umgebung vorher kennenlernen zu müssen! Das war außerordentlich schlau, und Nynaeve errötete, weil sie nie auf diese Idee gekommen war. Wie lange kannte Rand diesen Trick schon? War die Erinnerung daran etwa von dieser … Stimme in seinem Kopf gekommen?
Rand ritt Tai’daishar in die Senke hinein, die Hufe des Pferdes wirbelten gefallene Blätter auf, als es sich seinen Weg durch das Unterholz bahnte. Nynaeve folgte ihm und bemühte sich, ihre brave Stute anzutreiben, um mit ihm Schritt zu halten. Dieser Stallmeister würde auf jeden Fall etwas von ihr zu hören bekommen. Ihm würden die Ohren brennen, wenn sie mit ihm fertig war!
Auch Hurin kam auf seinem Pferd angetrabt, und die Aiel liefen mit und hielten ihn die ganze Zeit eingekreist. Sie hatten sich verschleiert und hielten Speere oder Bogen bereit. Sofort nachdem sie die Bäume hinter sich gelassen hatten, hielt Rand Tai’daishar an und schaute quer über eine offene Wiese auf die uralte Stadt Far Madding.
An den Großen Städten gemessen war sie nicht sehr imposant. Sie war auch keineswegs schön, wenn man sie mit den von den Ogiern erbauten Wundern verglich, die Nynaeve gesehen hatte. Aber sie war groß genug und beinhaltete fraglos schöne Architektur und uralte Relikte. Erbaut auf einer Insel in einem See, erinnerte sie sogar etwas an Tar Valon. Drei breite Brücken überquerten das ruhige Gewässer und stellten die einzige Möglichkeit dar, die Stadt zu betreten.