Das Donnern der Hufe war wie das Grollen eines fernen Sturms, und unwillkürlich schaute sie nach Norden. Der Sturm dort fühlte sich noch näher als zuvor an. Sie war immer von der Annahme ausgegangen, dass er sich über der Großen Fäule zusammenzog, aber jetzt war sie sich da nicht mehr so sicher.
Sie holte tief Luft, dann eilte sie in die Festung. Sie passierte Verteidiger in ihren makellosen Uniformen mit den glatten Harnischen. Sie passierte Stallburschen, die vermutlich alle von dem Tag träumten, an dem sie diese Uniform tragen durften, im Augenblick aber nur Pferde zurück in den Stall führen und füttern durften. Sie passierte Dutzende von Dienern in Leinengewändern, die sicherlich bequemer als ihre braune Wolle waren.
Die Festung selbst war wie ein riesiger Felsen, dessen glatte Wände nur von Fenstern unterbrochen wurden. Allerdings konnte sie noch immer die Stelle ausmachen, wo Mat mit seinem Illuminatorenfeuerwerk ein Stück zerstört hatte, als er gekommen war, um sie und die anderen aus ihrer Gefangenschaft zu befreien. Dieser dumme Junge. Wo war er? Sie hatte ihn schon … eine lange Zeit nicht mehr gesehen. Seit Ebou Dar an die Seanchaner gefallen war. In gewisser Weise hatte sie das Gefühl, ihn im Stich gelassen zu haben, obwohl sie das nie zugegeben hätte. Schließlich hatte sie sich vor dieser Tochter der Neun Monde schon genug zur Närrin gemacht, als sie diesen Schurken verteidigt hatte! Sie wusste noch immer nicht, was da bloß über sie gekommen war.
Mat würde schon für sich selbst sorgen. Vermutlich feierte er in irgendeiner Schenke, während der Rest von ihnen versuchte, die Welt zu retten - betrank sich und würfelte. Rand war da ein ganz anderes Kaliber. Es war so viel einfacher gewesen, mit ihm umzugehen, als er sich noch wie andere Männer benommen hatte - er war stur und unreif gewesen, aber vorhersehbar. Dieser neue Rand mit seiner Gefühlskälte und der kalten Stimme war wirklich furchteinflößend.
Die schmalen Korridore des Steins waren Nynaeve noch immer unvertraut, und sie verlief sich dementsprechend oft. Und es war keineswegs hilfreich, dass Gänge und Wände manchmal ihren Platz änderten. Sie hatte versucht, solche Geschichten als abergläubischen Unsinn abzutun, aber am Vortag war sie erwacht und hatte entdecken müssen, dass ihr Zimmer auf plötzliche und unerklärliche Weise bewegt worden war. Ihre Tür hatte sich auf eine glatte Wand aus dem gleichen nahtlosen Felsen wie der Stein selbst geöffnet. Sie war gezwungen gewesen, durch ein Wegetor zu entkommen, und hatte entsetzt erfahren müssen, dass ihr Fenster sich nun an einer Stelle zwei Stockwerke höher als am Vorabend befand!
Cadsuane hatte behauptet, dass der Dunkle König auf diese Weise die Welt berührte und das Muster veranlasste, sich aufzulösen. Cadsuane sagte viel, wenn der Tag lang war, und Nynaeve wünschte nur wenig davon zu hören.
Sie verirrte sich nur zweimal auf ihrem Weg durch die Korridore, aber schließlich fand sie Cadsuanes Zimmer. Wenigstens hatte Rand seinem Quartiermeister nicht verboten, ihr Räume zur Verfügung zu stellen. Nynaeve klopfte - sie hatte gelernt, dass das besser war -, dann trat sie ein.
Die Aes Sedai aus Cadsuanes Gruppe - Merise und Corele - saßen da, strickten, tranken dabei Tee und bemühten sich auszusehen, als würden sie nicht darauf warten, die Launen dieser unerträglichen Frau erfüllen zu dürfen. Cadsuane selbst unterhielt sich leise mit Min, die sie in den letzten Tagen so gut wie völlig vereinnahmt hatte. Min schien das nicht einmal zu stören, vielleicht weil es im Moment gar nicht so leicht war, sich in Rands Gegenwart aufzuhalten. Nynaeve verspürte einen Stich des Mitleids für das Mädchen. Sie musste Rand nur als Freundin gegenübertreten; für jemanden, der sein Herz teilte, musste das alles wesentlich schlimmer sein.
Aller Augen wandten sich Nynaeve zu, als sie die Tür schloss. »Ich glaube, ich habe ihn gefunden«, verkündete sie.
»Und wer sollte das sein, Kind?«, fragte Cadsuane und blätterte weiter in einem von Mins Büchern.
»Perrin. Ihr hattet recht; Rand weiß, wo er ist.«
»Ausgezeichnet!«, sagte Cadsuane. »Das habt Ihr gut gemacht. Anscheinend könnt Ihr ja doch von Nutzen sein.«
Nynaeve vermochte nicht zu sagen, was sie mehr ärgerte - das indirekte Kompliment oder die Tatsache, dass ihr Herz vor Stolz anschwoll, als sie es hörte. Sie war kein Mädchen ohne Zopf, das sich von den Worten dieser Frau geschmeichelt fühlen musste!
»Und?« Cadsuane schaute von ihrem Buch auf. Die anderen schwiegen weiter, allerdings warf Min ihr ein beglückwünschendes Lächeln zu. »Wo ist er?«
Nynaeve wollte antworten, aber dann hielt sie sich gerade noch rechtzeitig davon ab. Was war an dieser Frau, das sie so einfach gehorchen lassen wollte? Es war nicht die Eine Macht, damit hatte es gar nichts zu tun. Cadsuane verfügte einfach über die Ausstrahlung einer strengen, aber gerechten Großmutter. Die Sorte, der man niemals Widerworte gab, die einem aber ein paar Süßigkeiten zur Belohnung schenkte, wenn man brav wie befohlen den Boden putzte.
»Zuerst will ich wissen, warum Perrin so wichtig ist.« Nynaeve ging zu dem einzigen freien Sitzplatz im Raum, einem lackierten Hocker. Als sie sich gesetzt hatte, musste sie entdecken, dass sie ein paar Finger unter Augenhöhe saß. Wie eine Schülerin vor Cadsuane. Beinahe wäre sie wieder aufgestanden, aber dann wurde ihr klar, dass das nur noch mehr Aufmerksamkeit erregen würde.
»Pff!«, machte Cadsuane. »Ihr haltet dieses Wissen zurück, selbst wenn es das Leben jener bedeutet, die Euch am Herzen liegen?«
»Ich will wissen, worauf ich mich da eingelassen habe«, erwiderte Nynaeve stur. »Ich will wissen, dass diese Information Rand am Ende nicht noch mehr verletzt.«
Cadsuane schnaubte. »Ihr glaubt allen Ernstes, dass ich den dummen Jungen verletzen würde?«
»Ich glaube jedenfalls nichts anderes«, fauchte Nynaeve. » Nicht, bevor Ihr mir verraten habt, was Ihr machen wollt.«
Cadsuane schloss das Buch - Echos Seiner Dynastie - und sah beunruhigt aus. »Habt Ihr denn wenigstens die Güte, mir zu verraten, wie die Begegnung mit den Grenzländern verlaufen ist? Oder hat diese Information auch ihren Preis?«
Glaubte sie ehrlich, Nynaeve so einfach ablenken zu können? »Schlecht ist sie verlaufen, wie zu erwarten war«, sagte sie. »Sie haben sich vor Far Madding ausgebreitet und sich geweigert, sich mit Rand zu treffen, solange er sich nicht in die Reichweite des Wächters begibt und sich von der Quelle trennt.«
»Hat er es gut aufgenommen?«, fragte Corele von ihrer gepolsterten Bank auf der anderen Seite des Zimmers. Sie lächelte schmal; sie schien hier die Einzige zu sein, die Rands Veränderungen für amüsant statt beängstigend hielt. Andererseits war sie eine der Frauen, die praktisch bei der ersten Gelegenheit den Bund mit einem Asha’man eingegangen waren.
»Hat er es gut aufgenommen?«, wiederholte Nynaeve tonlos. »Kommt darauf an. Zählt es für Euch als ›gut aufgenommen‹, das verdammte Ter’angreal zu ziehen und zu drohen, Feuer auf das Heer herabregnen zu lassen?«
Min wurde blass. Cadsuane hob eine Braue.
»Ich habe ihn davon abgehalten«, sagte Nynaeve. »Aber es war knapp. Ich weiß nicht. Es könnte … bereits zu spät sein, um ihn irgendwie zu ändern.«
»Und der Junge wird wieder lachen«, sagte Cadsuane leise, aber energisch. »Ich habe nicht so lange gelebt, um jetzt zu scheitern.«
»Spielt das überhaupt eine Rolle?«, wollte Corele wissen.
Nynaeve wandte ungläubig den Kopf.
»Was denn?« Corele legte ihr Strickzeug zur Seite. »Warum ist das von Bedeutung? Wir werden offensichtlich Erfolg haben.«
»Beim Licht!«, sagte Nynaeve. »Wie kommt Ihr denn auf die Idee?«
»Wir haben dieses Mädchen hier den ganzen Nachmittag über ihre Visionen befragt.« Corele wies mit dem Kopf auf Min. »Sie bewahrheiten sich immer, und sie hat Dinge gesehen, die sich offensichtlich erst nach der Letzten Schlacht zutragen können. Also wissen wir, dass Rand den Dunklen König besiegt. Das Muster hat es bereits entschieden. Wir können aufhören, uns Sorgen zu machen.«