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»Könnten die Seanchaner ihnen so schlimm zugesetzt haben?«

»Ich weiß es nicht, Mutter. Es war schlimm, was vergangene Nacht geschah. Viel Feuer, viele tote Männer. Aber ich hätte mit Hunderten an Verlusten gerechnet, nicht mit Tausenden. Vielleicht räumt die Burgwache ja noch den Schutt weg und löscht die Brände, trotzdem glaube ich, dass sie eine größere Streitmacht versammelt hätten, als sie mich aufmarschieren sahen. Ich habe mir die Jungs dort drüben mit dem Fernglas angesehen und mehr als nur ein paar müde rote Augen entdeckt.«

Egwene saß nachdenklich da und war dankbar für die Brise, die vom Fluss wehte. »Ihr habt gar nicht die Klugheit dieses Angriffes infrage gestellt, General.«

»Ich stelle für gewöhnlich nie infrage, welche Richtung man mich beauftragt einzuschlagen, Mutter.«

»Und was haltet Ihr davon, wenn man Euch fragt?«

»Wenn man mich fragt?«, wiederholte Bryne. »Nun, taktisch gesehen macht ein Angriff Sinn. Wir haben den Vorteil des Schnellen Reisens verloren, und wenn unser Feind sich beliebig versorgen und Abordnungen dorthin schicken kann, wo immer er will, welchen Sinn macht eine Belagerung dann noch? Entweder wir greifen jetzt an, oder wir rücken ab.«

Egwene nickte. Und doch zögerte sie. Der unheilvolle Rauch in der Luft, die beschädigte Burg, die verängstigten Soldaten ohne jede Verstärkung … Das alles schien eine Warnung zu flüstern.

»Wie lange können wir warten, bevor Ihr mit dem Angriff unwiderruflich beginnen müsst, General?«

Er runzelte die Stirn, verzichtete aber auf jeden Einwand. Er blickte in den Himmel. »Es wird spät. Vielleicht eine Stunde? Danach wird es zu dunkel sein. Bei einem so günstigen Zahlenverhältnis würde ich es lieber vermeiden, die Unwägbarkeiten einer nächtlichen Schlacht in die Rechnung einzuführen.«

»Dann warten wir eine Stunde«, sagte Egwene. Die anderen erschienen verwirrt, aber keiner sagte etwas. Der Amyrlin-Sitz hatte gesprochen.

Worauf wartete sie? Was verrieten ihr ihre Instinkte? Während die Minuten verstrichen, dachte Egwene darüber nach, und schließlich wurde ihr bewusst, was sie hatte innehalten lassen. Nach diesem Schritt gab es kein Zurück mehr. Die Weiße Burg hatte in der vergangenen Nacht gelitten; zum ersten Mal hatte eine feindliche Streitmacht die Eine Macht gegen sie eingesetzt. Egwenes Angriff würde eine weitere Premiere sein: das erste Mal, dass eine Gruppe Aes Sedai gegen eine andere Truppen ins Feld führte. Schon zuvor hatte es Fraktionskämpfe in der Burg gegeben; Zusammenstöße zwischen verschiedenen Ajahs, und einige davon hatten durchaus zu Blutvergießen geführt, so wie bei Siuans Absetzung. Die geheimen historischen Aufzeichnungen erwähnten solche Geschehnisse.

Aber noch nie zuvor hatte sich der Streit jenseits der Tore der Weißen Burg erstreckt. Noch nie zuvor hatten Aes Sedai Truppen über diese Brücken geführt. Das jetzt zu tun würde Egwenes Amtszeit als Amyrlin für alle Ewigkeit mit dieser Schmach verbinden. Was auch immer sie sonst erreichen würde, dieser Tag würde es mit Sicherheit überschatten.

Sie hatte gehofft, als Befreierin zu kommen und zu versöhnen. Stattdessen würde sie sich Krieg und Unterwerfung zuwenden. Wenn es nicht anders ging, würde sie den Befehl geben. Aber sie wollte bis zum letztmöglichen Augenblick damit warten. Und wenn es eben bedeutete, eine grimmige Stunde unter dem bewölkten Himmel zu warten, während die Pferde schnaubten, weil sie die Anspannung ihrer Reiter spürten, dann sollte es eben so sein.

Brynes Stunde verging. Egwene zögerte noch ein paar Minuten länger - solange sie es wagte. Die armen Soldaten auf der anderen Seite der Brücke erhielten keine Verstärkung. Sie starrten bloß entschlossen hinter ihrer kleinen Barrikade hervor.

Zögernd drehte sich Egwene um, um den Befehl zu geben. »Einen Moment.« Bryne beugte sich auf seinem Sattel vor. »Was ist das?«

Egwene wandte den Blick wieder der Brücke zu. Kaum erkennbar kam in der Ferne eine Prozession die Straße entlang. Hatte sie zu lange gewartet? Hatte die Weiße Burg Verstärkung geschickt? Würde ihr stures Zögern ihre Männer das Leben kosten?

Aber nein. Diese Gruppe bestand nicht aus Soldaten, sondern aus Frauen in Röcken. Aes Sedai!

Egwene hob die Hand und verhinderte jeden Angriff ihrer Soldaten. Die Prozession ritt auf direktem Weg zu der Barrikade der Burgwache. Einen Augenblick später begab sich eine Frau in einem grauen Kleid vor die Straßensperre; begleitet wurde sie nur von einem einzigen Behüter. Egwene kniff die Augen zusammen und versuchte, das Gesicht der Frau zu erkennen, und Bryne reichte ihr hastig sein Fernglas. Egwene nahm es dankbar entgegen, aber sie hatte die Frau bereits erkannt. Andaya Forae, eine der neuen Sitzenden des Saals, die man nach der Spaltung erwählt hatte. Graue Ajah. Das deutete die Bereitschaft zu Verhandlungen an.

Der Schein der Macht umgab die Frau, und Siuan zischte, was einige der Soldaten in der Nähe die Bögen heben ließ. Wieder hob Egwene die Hand. »Bryne«, sagte sie streng. »Es wird kein erster Schuss abgegeben, bevor ich den ausdrücklichen Befehl dazu gebe!«

»Zurück, Männer!«, brüllte Bryne. »Ich ziehe euch die Haut ab, wenn ihr auch nur einen Pfeil auf die Sehne legt!« Hastig nahmen die Männer die Bögen herunter.

Die Frau in der Ferne benutzte ein Gewebe, das Egwene nicht erkennen konnte, und sprach dann mit einer Stimme, die offensichtlich verstärkt wurde. »Wir möchten mit Egwene al’Vere sprechen«, sagte Andaya. »Ist sie anwesend?«

Egwene erschuf ihr eigenes Gewebe, um ihre Stimme zu verstärken. »Ich bin hier, Andaya. Sagt den anderen in Eurer Begleitung, sie sollen vortreten, damit ich sie sehen kann.«

Überraschenderweise gehorchten sie dem Befehl. Neun weitere Frauen traten nacheinander hervor, und Egwene musterte eine nach der anderen. »Zehn Sitzende«, sagte sie, gab Bryne sein Fernglas zurück und löste ihr Gewebe auf, damit sie sprechen konnte, ohne dass ihre Worte über die Distanz projiziert wurden. »Zwei von jeder Ajah mit Ausnahme der Blauen und der Roten.«

»Das ist vielversprechend.« Bryne rieb sich das Kinn.

»Nun, sie könnten gekommen sein, um meine Kapitulation entgegenzunehmen«, bemerkte Egwene trocken. »Also gut.« Sie verstärkte ihre Stimme wieder mit der Macht. »Was wünscht Ihr von mir?«

»Wir sind hergekommen«, sagte Andaya. Dann zögerte sie. »Wir sind hergekommen, um Euch darüber zu informieren, dass der Saal der Weißen Burg sich entschieden hat, Euch zum Amyrlin-Sitz zu erheben.«

Siuan keuchte ungläubig auf, und Bryne fluchte leise. Mehrere Soldaten murmelten etwas davon, dass das nur eine Falle sein konnte. Aber Egwene schloss bloß die Augen. Konnte sie zu hoffen wagen? Sie war von der Annahme ausgegangen, dass ihre ungewollte Rettung viel zu früh erfolgt war. Aber wenn sie tatsächlich eine ausreichende Grundlage geschaffen hatte, bevor Siuan und Gawyn sie gerettet hatten …

»Was ist mit Elaida?«, verlangte sie zu wissen. Sie öffnete die Augen, und ihre Stimme hallte über die Distanz. »Habt ihr die nächste Amyrlin abgesetzt?«

Auf der anderen Seite herrschte einen Augenblick lang Stille. »Sie besprechen sich.« Bryne hatte sein Fernglas gehoben.

Dann ergriff Andaya wieder das Wort. »Elaida do Avriny a Roihan, der Amyrlin-Sitz, wurde … bei dem Angriff vergangene Nacht gefangen genommen. Ihr Aufenthaltsort ist unbekannt. Sie gilt als tot oder ansonsten nicht in der Lage, ihre Pflichten zu erfüllen.«

»Beim Licht!« Bryne senkte das Fernglas.

»Das hat sie sich redlich verdient«, murmelte Siuan.

»Keine Frau verdient das«, sagte Egwene zu Siuan und Bryne. Unwillkürlich griff sie sich an den Hals. »Es wäre besser, sie wäre gestorben.«

»Das könnte eine Falle sein«, bemerkte Bryne.

»Ich wüsste nicht, wie das funktionieren sollte«, meinte Siuan. »Andaya ist an die Eide gebunden. Sie steht doch nicht auf Eurer Liste der Schwarzen, oder, Egwene?«