Und überall im Gasthaus ruhten ausgestreckt die Körper von Nachtelfen, einer Handvoll Gnome und Menschen und eines einzelnen Zwergs.
„Ich bin nicht fern von diesem Bereich gelandet und wurde unruhig, als ich keine Lichter und Leben fand“, erklärte die Hohepriesterin. „Das hier war der nächstgelegene öffentliche Ort, und so trat ich ein.“
„Schlafen... auch sie?“
Tyrande beugte sich über einen Menschen. Er war über den Tisch gesunken und wirkte, als wäre er dort vor schierer Erschöpfung hingefallen. Sein Haar und der Bart waren unordentlich. Doch seine Kleidung stammte, obwohl etwas Staub darauf lag, eindeutig von einer hochrangigen Person. Neben ihr lag ein Nachtelf, der offensichtlich aus dem Ort stammte. Obwohl er auf der Seite lag, waren seine Hände noch zu dem Menschen hin ausgestreckt. Wie der Mensch wirkte auch der Nachtelf merkwürdig ungepflegt. Sie waren diejenigen, die am schlimmsten aussahen, obwohl alle Schläfer in der Schenke aussahen, als hätten sie sich sehr angestrengt.
„Hier hat ein Kampf stattgefunden“, stellte Broll fest.
Tyrande erwiderte: „Das muss dann aber ein sehr freundschaftlicher Kampf gewesen sein, wenn es denn tatsächlich stimmen sollte. Die einzigen Prellungen, die ich gefunden habe, wurden durch die Stürze verursacht. Ich glaube, die beiden sind einfach zusammengebrochen.“ Sie wies auf den Zwerg und ein paar der anderen Gäste. „Seht Ihr, wie sie angeordnet sind?“
Nach einem Moment des Beobachtens blickte Broll finster. „Sie wirken, als würden sie sich ausruhen. Alle!“
„Sie alle schlafen jetzt, selbst dieses erste verzweifelt wirkende Paar. Seht Euch um. Die Schenke erweckt den Anschein, als hätte man sich auf eine Verteidigung vorbereitet.“
„Das hätte mir auch selbst auffallen müssen.“ Erst jetzt bemerkte der Druide, dass die Tische und Stühle eine Art von Wall gegen den Eingang und die Fenster bildeten. „Aber gegen was haben sie sich verteidigt?“
Darauf wusste Tyrande keine Antwort.
Broll blinzelte. In den letzten Minuten hatte er des Öfteren blinzeln müssen, obwohl seine Sicht mit der untergehenden Sonne eigentlich schärfer werden sollte. „Der Nebel wird dichter... und dunkler.“
Draußen krächzte Jai eine leise Warnung.
Tyrande und Broll eilten zum Eingang. Der Hippogryph scharrte unruhig mit den Krallen. Doch es gab kein Anzeichen dafür, dass sich etwas in der Nähe befand, und der sich verdunkelnde Nebel verringerte ihre Sichtweite immer mehr.
Ein Stöhnen kam von drinnen. Broll eilte an der Hohepriesterin vorbei. Er wollte den Verursacher aufspüren, er musste sich unter den herumliegenden Gestalten im hinteren Bereich der Schenke befinden. Dann erklang ein weiteres Stöhnen aus einer anderen Richtung. Broll glaubte, dass es von dem Nachtelfen in der Nähe des Menschen kam. Er beugte sich zur nächsten Gestalt hinab.
Tyrande kam zu ihm. „Was ist los? Ist er wach?“
„Nein...“ Broll drehte den Kopf des Schläfers leicht. „Ich glaube, dass er träumt...“
Ein drittes Stöhnen gesellte sich zum vorhergehenden. Plötzlich jammerten alle herumliegenden Gestalten. Brolls Nackenhaare richteten sich auf, als er entdeckte, was ihren Stimmen gemein war: Angst.
„Das sind keine simplen Träume“, korrigierte er sich selbst, stand auf und blickte zurück zum Eingang. „Sie haben Albträume. Alle.“
Jai gab erneut eine Warnung von sich. Sie kehrten zu dem Hippogryphen zurück und sahen nichts... dafür hörten sie so einiges.
Das Stöhnen erklang nun überall in Auberdine.
„Das hat alles mit Malfurion zu tun“, stellte Tyrande überzeugt fest.
„Aber wie?“
Jai trat vor. Das Tier neigte den Kopf zur Seite und lauschte.
Eine düstere Gestalt kam kurz in Sicht und verschwand dann wieder. Sie war kleiner als ein Nachtelf, eher von der Größe eines Menschen. Der Hippogryph wollte hinterherlaufen, doch Tyrande rief ihn leise beim Namen. Das Tier blieb stehen.
Die Hohepriesterin übernahm wieder die Führung. Broll trat schnell an ihre Seite, bereit, seine Künste zu nutzen, um ihr zu helfen. Jai blieb ihnen auf den Fersen.
„Da!“, zischte sie und wies nach links.
Broll hatte kaum Zeit, die Gestalt zu sehen, bevor sie wieder im Nebel verschwand. „Sieht aus, als würde sie taumeln. Vielleicht ein Überlebender.“
„Der Nebel scheint sich um unseren Flüchtigen herum zu verdichten.“ Tyrande legte die Hände zusammen. „Vielleicht kann Mutter Mond das ändern.“
Vom bedeckten Himmel direkt über der Hohepriesterin senkte sich ein silbriges Leuchten in die Richtung der mysteriösen Gestalt herab. Es brannte sich durch den Nebel und enthüllte dabei alles auf seinem Weg Liegende. Broll hob die Augenbrauen, als er sah, dass das Licht die Richtung wie ein lebendiges Wesen wechselte und sich immer weiter ausbreitete, um den Fremden zu finden.
Und dann stand er plötzlich da: ein männlicher Mensch. Seine Kleidung verriet, dass er schon bessere Zeiten gesehen hatte. Seitdem hatte er ganz offensichtlich einen Abstieg erlebt. Er starrte sie aus leeren Augen an, was wohl auf Schlafmangel zurückzuführen war. Der Mensch wirkte ausgemergelter als die Gruppe, die sie in der Schenke gefunden hatten. Irgendwie blieb er in Bewegung.
„Bei Nordrassil!“, stieß Broll hervor.
Der Mensch war nicht nur in Bewegung geblieben, sondern vor den Augen der beiden Nachtelfen einfach verschwunden.
„Ein Magier“, knurrte Tyrande. „Er ist der Täter, nicht das Opfer...“
„Ich weiß nicht, Mylady.“ Broll konnte es nicht genau erklären, doch da war etwas an der Art des Verschwindens des Mannes, das sich... vertraut anfühlte.
Der Druide konzentrierte sich darauf, was er gesehen hatte. Der Mensch hatte zu ihnen geschaut, dann einen Schritt gemacht...
„Er ist durch etwas hindurchgegangen... in irgendetwas hinein“, murmelte Broll zu sich selbst. Er überlegte, was genau er dann gespürt hatte.
„Es ist doch egal, ob er einfach verschwunden oder durch ein Portal gegangen ist“, zischte Tyrande grimmig. Sie ging schnell zu dem Hippogryphen zurück und zog ihre Gleve aus einer Satteltasche. „Er könnte der Schlüssel zu Malfurion sein...“
Bevor Broll sie aufhalten konnte, schoss die Hohepriesterin auf den Punkt zu, wo der Mensch eben noch gestanden hatte. Vielleicht hatte der Fremde ja tatsächlich Schuld, wie Tyrande vermutete. Doch gerade dann mussten sie vorsichtiger sein, vor allem, wenn ihr Gegner wirklich ein Zauberer war.
Tyrande erreichte den letzten Standort des Menschen und hielt die Gleve bereit, während sie ein Gebet murmelte. Das Licht von Elune umgab sie, dann breitete es sich mehrere Meter in jede Richtung aus.
Doch es gab keine Spur auf den Verbleib des Menschen.
Broll trat zu ihr. „Herrin, ich...“
Sie verzog das Gesicht. „Ich bin nicht Königin Azshara. Bitte verwendet nicht solch eine Anrede...“
Neues Stöhnen durchdrang den dichten Nebel – ebenso scharf, wie es das Licht von Elune getan hatte. Die Angst darin war mehr als deutlich zu erkennen.
„Wir müssen sie irgendwie aufwecken!“, knurrte Broll. „Es muss doch einen Weg geben...“
Jai stieß einen Warnschrei aus. Broll und Tyrande vermuteten, dass der Mensch wieder aufgetaucht war. Beide Nachtelfen wandten sich dem Geräusch zu...
Verhüllt von dem mysteriösen Nebel, taumelten mehrere Gestalten auf sie zu, während der Dunst das gespenstische Stöhnen weitertrug.
Broll spürte, wie seine Furcht wuchs. Plötzlich wollte er weglaufen oder in Deckung gehen. Er wollte sich einfach nur einigeln und beten, dass die schattenhaften Gestalten ihm nichts antun würden. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn.
Was geschieht mit mir?, fragte er sich. Broll war eigentlich nicht anfällig für Furcht. Doch der Drang, sich zu ergeben, war stark. Er blickte zu Tyrande und sah die Hand zittern, in der sie die Gleve hielt. Das lag gewiss nicht nur an dem Gewicht der Waffe. Die Hohepriesterin presste die Lippen zusammen. Selbst Jai zeigte Zeichen von Anspannung. Der Atem des mächtigen Hippogryphen kam immer schneller.