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Doch am nachhaltigsten erinnerte sie sich an all die Hoffnungen und Träume, die sie beide nach dem Krieg geteilt hatten. Sie planten ein gemeinsames Leben zu beginnen. Wollten, dass Azeroth keine weiteren Opfer mehr von ihnen beiden verlangen konnte.

Doch zu Tyrandes großer Enttäuschung führte Malfurions Berufung ihn wieder fort. Er begann, andere Druiden auszubilden, weil Azeroth selbst so viel Heilung benötigte, und sie gehörten zu den eifrigsten Helfern. Als Malfurion sich dazu entschloss, Tyrande jahrelang zu verlassen, um durch den Smaragdgrünen Traum zu wandeln, hatte sie sich manchmal gefragt, ob er sie jemals wirklich geliebt hatte.

Tyrande war mittlerweile in die Rolle der Hohepriesterin der Elune gedrängt worden. Und praktisch gegen ihren Willen war sie zur Herrscherin ihres Volkes aufgestiegen. Erst in dieser Position hatte sie die Gesellschaft der Nachtelfen nachhaltig ändern können. Etwa indem sie das traditionelle – und oftmals fehlerhafte – System der militärischen Befehlskette auflöste, das allein auf Abstammung basierte. Stattdessen gründete sie die Schildwache, deren Offiziere nur durch eigene Verdienste aufsteigen konnten.

Das Schicksal, Herrscherin der Nachtelfen zu sein, hätte sie nicht freiwillig gewählt. Doch sie konnte es auch nicht ablehnen, denn viel zu sehr wollte sie das Volk der Nachtelfen beschützen.

Mutter Mond, gewährt mir Ruhe, erbat die Hohepriesterin stumm. Obwohl sie Jahrtausende alt war, schien die Nachtelfe wenig älter zu sein als an dem Tag, als sie zur Herrscherin ernannt worden war. Sie hatte immer noch das üppige mitternachtsblaue Haar, das über ihre Schultern floss. Die silbernen Strähnen hatte sie schon seit ihrer Jugendzeit. Ihr Gesicht war das eines jungen Mädchens, obwohl mittlerweile feine Fältchen die Winkel ihrer silbernen Augen durchzogen. Aber selbst das war eher sechs oder sieben Jahren wahren Alterns geschuldet denn den zehn Jahrtausenden, die sie bereits lebte.

Doch der Versuch, ein oder mehrere Jahrhunderte lang weise zu regieren, forderte seinen Tribut. Deshalb suchte die Hohepriesterin gelegentlich Ruhe in der Meditation. Tyrande brauchte nur ab und zu eine Stunde, was sicherlich keine zu große Forderung an Elune war. Hier, gebadet im stets präsenten Licht von Mutter Mond, fand sie normalerweise ohne Mühe ihre innere Mitte. Doch dieses Mal entschlüpfte ihr das Gefühl des Friedens. Tyrande kannte die Gründe dafür, aber sie wollte sich ihnen nicht beugen. Sie konzentrierte sich stärker – und keuchte. Das sanfte Mondlicht funkelte, blendete sie... und schmerzte sie zum ersten Mal.

Ihre Umgebung veränderte sich. Sie befand sich nicht mehr in der Sicherheit des Tempels. Stattdessen stand die Nachtelfe an einem dunklen Ort, dessen irdene Wände ihn sofort als Kammer in einem Grabhügel kennzeichneten. Tyrande konnte sämtliche Details in der Kammer gut erkennen. Sie erblickte Beutel voller Kräuter, Federn, Zähne und andere Objekte, die allesamt aus Azeroths Fauna stammten. Es waren auch Zeichen zu sehen. Einige waren ihr vertraut, während andere ihr völlig unergründlich blieben.

Ein Schaudern lief ihr den Rücken hinunter. Sie wusste, wo sie war, doch sie konnte es nicht glauben.

Plötzlich trat eine Priesterin der Elune in ihr Blickfeld. Tyrande kannte sie beim Namen, erkannte ihr schmales, faltenloses Gesicht. Es war Merende – viel jünger als die Hohepriesterin, doch eine geschätzte Akolytin von Mutter Mond.

Eine zweite Priesterin folgte Merende. Sie war ihrer Herrscherin ebenfalls bekannt. Der Priesterin folgte ein dritte. Sie alle blickten düster und hielten den Kopf gesenkt. Die Priesterinnen trugen einfache silberne Roben mit Kapuzen. Die schlichten Stoffe waren dem Respekt vor ihrer Umgebung geschuldet, weil die Priesterinnen sich nicht unter ihresgleichen aufhielten. Stattdessen befänden sie sich an einem Ort, der unter Aufsicht der Druiden stand. Dies war eine Gruft – eine Heimstatt sozusagen -, in der ein Angehöriger ihrer Zunft ruhte.

Als Tyrande gerade darüber nachdachte, veränderte sich der Blickwinkel und folgte unwillentlich den Augen der besorgten Priesterinnen. Ein Körper ruhte flach auf der gewobenen Grasmatte, ein schwaches silbernes Licht – Elunes Licht – lag über der reglosen Gestalt. Tyrandes Herzschlag beschleunigte sich bei diesem feierlichen Anblick, obwohl sie sich eigentlich daran gewöhnt haben sollte.

Selbst im Schlaf waren auf dem stolzen Gesicht des Liegenden die Zeichen der Zeit und der Mühsal viel deutlicher zu erkennen als auf ihrem. Sein langes graues Haar, das von den Priesterinnen gekämmt worden war, lag auf seiner Brust, wo es mit dem vollen, langen Bart zu verschmelzen schien. Seine dichten Augenbrauen ließen ihn ernst und gedankenvoll wirken.

Er war aufwendiger als die meisten Druiden gekleidet – weniger aus eigener Entscheidung, als vielmehr, weil es seiner Position entsprach. Eine schwere Rüstung mit hervorstehenden Dornen bedeckte seine Schultern, passende Teile schützten Unterarme und Schienbeine. Obwohl aus Holz gefertigt, das aus Respekt vor der Natur nur von toten Bäumen stammte, war die durch Zauber gewirkte Rüstung haltbarer und belastbarer als eine aus Metall. Das ärmellose Gewand reichte bis zu seinen in Sandalen steckenden Füßen hinab und war an der Seite in Beinhöhe mit blattförmigen Mustern geschmückt. Um die Knöchel verliefen blaue Bänder, auf denen Halbmonde prangten, als kleine Ehrung für Elune.

Malfurion Sturmgrimm schaute zur Decke, seine goldenen Augen waren leer.

Tyrande trank den Anblick ihres Geliebten förmlich. Ihre Beine wurden schwach, als sie ihn betrachtete – wie konnte ein Wesen mit einem so wachen und lebendigen Geist nur derart leblos und hoffnungslos wirken?

Sie lächelte schwach, als sie Malfurion ansah, der so majestätisch war, so vornehm. So edel der männliche Nachteil auch wirkte, verlangte ein Aspekt an ihm doch die meiste Aufmerksamkeit. Aus seiner Stirn erwuchs ein stolzes Geweih. Beinahe sechzig Zentimeter lang waren die beiden Äste, die kein Geburtsfehler waren, sondern ein Geschenk und Zeichen von Cenarius. Es gab nur wenige Druiden, die den Segen des vierbeinigen, behuften Halbgotts trugen. Und von den wenigen war er der Erste und Größte.

Als Malfurion das Geweih seinerzeit gewachsen war, hatte Tyrande nicht die Fassung verloren. Stattdessen hatte sie es stets als Anerkennung seiner Größe gesehen, von der sie schon immer gewusst hatte, dass sie in Malfurion steckte.

„Malfurion...“, flüsterte sie dem Körper zu, obwohl niemand, schon gar nicht er selbst, sie hören konnte. „Oh, mein Malfurion... warum musstet Ihr mich wieder verlassen?“

Sie sah zu, wie ihre Anhänger neben dem reglosen Körper niederknieten und ihm ihre Hände auf Kopf und Brust legten. Tyrande wusste, was sie taten. Schließlich hatte sie selbst die Anweisungen dazu erteilt.

Nur durch den Segen von Mutter Mond lebte Malfurion Sturmgrimm überhaupt noch. Ihr Glaube hielt den Körper des Erzdruiden lebendig und gesund, und sie hoffte entgegen allen Erwartungen auf den Tag, an dem Malfurion sich wieder regen würde. Dass seine Traumgestalt zurückkehren würde, wo auch immer sie sich im Smaragdgrünen Traum verlaufen hatte...

Die Hohepriesterin wollte verzweifelt fort. Welchem Zweck diente es, dass Elune ihr diese Szene zeigte? Dadurch wurden nur ihre Furcht neu entfacht und weitere schreckliche Erinnerungen ausgelöst. Sie konnte es nicht ertragen, ihn so zu sehen, verloren für sie... vielleicht für immer.