Die Hohepriesterin trat zu. Doch nicht der Mensch war ihr Ziel, sondern das Götzenbild des Remulos.
Die Drachenstatue flog davon. Sie prallte gegen eine Anhöhe, dann landete sie auf einem Stein.
Broll, dessen Zauber gerade unterbrochen worden war, blickte die beiden mit einer Mischung aus Frustration und Verwirrung an. „Was beim Weltenbaum macht Ihr da?“, wollte er von Tyrande wissen. Der Druide sprang auf und packte den Menschen am Genick. „Und was für einen Unfug treibt Ihr hier? Mit welchem Trick habt Ihr sie dazu verleitet?“
Der Mund des Mannes bewegte sich, doch kein Ton drang daraus hervor. Die Bilder, die Tyrande um ihn herum gesehen hatte, verblassten, und trotz ihrer Versuche, sie sich ins Gedächtnis zu brennen, verschwanden sie wieder aus ihrem Kopf... so wie Träume, egal ob gut oder böse, es manchmal zu tun pflegten.
Aber sie erinnerte sich an eine Sache. Sie trat an Brolls Seite und hielt ihn davon ab, den zerzausten Menschen weiter zu bedrängen. „Lasst ihn! Er wollte uns helfen!“
„Uns helfen? Er hat Euch dazu verleitet, den Zauber zu unterbrechen, als er gerade zu wirken begann!“ Doch er respektierte ihre Meinung und ließ den Menschen los.
„Funktionierte nicht, funktionierte nicht“, brabbelte der Mann, seine Augen blickten an ihnen vorbei. „Funktionierte nur für sie...“
„Für wen?“, fragte Tyrande und legte eine Hand beruhigend auf seine Schulter.
Schließlich klärte sich der Blick des Mannes. Er sah sie an. „Ich... ich weiß es nicht... ihnen... den Albträumen...“ Der Mann schaute zu Boden. „Ich schlief... ich kann nicht schlafen... nicht schlafen...“
„Wer seid Ihr?“, fragte Broll jetzt in freundlicherem Ton. „Wie ist Euer Name?“
„Name?“ Einen Augenblick lang schwand seine Aufmerksamkeit. Blinzelnd schien ihr Begleiter sich ein wenig zusammenzureißen. „Lucan... Lucan Fuchsblut...“ Mit seinem verbliebenen Stolz richtete er sich auf. „Dritter Hilfs-Kartograf Seiner Majestät, König Varian! Auf einer Erkundungsmission nach... nach...“ Sein Gesichtsausdruck glich dem eines Kindes, das sich verlaufen hatte. „Daran kann ich mich nicht mehr erinnern, nicht mehr...“
„Macht Euch keine Gedanken darum“, beruhigte ihn Tyrande. „Sagt uns, woher wusstet Ihr, dass der Zauber eine Gefahr bedeutet?“
„Ich... ich wusste es einfach. Es... es hatte mit dem Ort in meinen Träumen zu tun... ich spürte sie... ich spürte etwas nahen...“
Broll holte die Figur zurück. „Vielleicht war es derjenige, den wir erreichen wollten.“
Obwohl das logisch klang, erinnerte sich Tyrande immer noch daran, wie sie sich gefühlt hatte, nachdem sie gesehen hatte, was hinter Lucan Fuchsblut aufgetaucht war. „Nein... er hat recht, Broll. Da kam etwas Düsteres. Deshalb tat ich, was ich tun musste. Ich vertraute seinem Wort...“
Lucan blickte sie an, als hätte sie seinen Kopf gerade vor einer Axt gerettet. „Danke, schöne Dame! Danke!“
„Beruhigt Euch, Lucan. Ihr seid unter Freunden... und dankt mir nicht mehr. Eure Reaktion hat uns vielleicht gerettet.“
„Glaubt Ihr das wirklich?“, fragte der Druide, der immer noch die Statue betrachtete. „Vielleicht... vielleicht auch nicht...“ Er stellte die Statue ab. „Jetzt können wir nur noch eins tun.“ Broll blickte zu Lucan. „Wisst Ihr, wo wir sind?“
„Nein... nein... Ich bin nur immer weitergegangen... bin nur weitergegangen...“
„Wie ich es mir gedacht hatte.“ Broll trat zurück. An Tyrande gewandt sagte er: „Ich habe es Euch nicht schon vorher gesagt, aber während Ihr schlieft, habe ich einen kurzen Flug unternommen. Doch ich konnte nicht erkennen, wo wir sind. Ich glaube, ich versuche es noch mal, damit wir besser wissen, was wir jetzt tun können.“
Tyrande störte die Enthüllung nicht. Sie wusste, dass Broll sie und Lucan nicht in Gefahr gebracht hätte. Sie nickte zustimmend. „Was ist mit dem Götzenbild?“
Er zuckte mit den Achseln. „Was soll damit sein? Wenn wir dieses verfluchte Ding nicht benutzen, sind wir auch nicht in Gefahr. Es kann hierbleiben, bis ich zurückkehre.“
Er streckte die Arme aus und nahm die Gestalt der Sturmkrähe an. Lucan keuchte und taumelte auf Tyrande zu, die ein wenig Schuld verspürte. Sie und Broll waren weit mehr an Magie gewöhnt als die meisten Menschen.
„Es ist nichts“, sagte sie zu Lucan. „Nichts, über das Ihr Euch sorgen müsst.“
„Mein... mein Vetter war auch ein Druide“, murmelte Lucan, der dabei klang, als würde die Erinnerung ihn stolz machen. Dann kehrte sein Stirnrunzeln zurück. „Jetzt ist er tot.“
Wie so viele, dachte die Hohepriesterin und erinnerte sich derer, die im letzten Krieg gefallen waren. Und jetzt... was kommt jetzt auf Azeroth zu?
Broll hob ab und beendete ihr Grübeln. Sie und Lucan beobachteten mit Bewunderung, wie der große Vogel in den Himmel aufstieg. Tyrande beneidete die Druiden um die besondere Fähigkeit, auf diese Weise fliegen zu können...
Doch kaum hatte die Sturmkrähe eine respektable Höhe erreicht, begann sie augenblicklich zu ihren Begleitern herabzusinken. Lucan starrte sie einfach an, er verstand nichts. Doch Tyrande wusste, dass Broll nicht so schnell zurückgekehrt wäre, wenn es nicht wichtige Neuigkeiten gäbe.
Sie ergriff das Götzenbild, bevor Broll sie erreichte. Sie wusste irgendwie, dass sie es gleich eilig haben würden. Die Haltung, die der Druide bei der Rückverwandlung zeigte, reichte ihr als Bestätigung für ihre Annahme.
„Hast du herausgefunden, wo wir sind?“, fragte Lucan naiv.
„Was habt Ihr gesehen?“, fragte Tyrande. „Sind wir irgendwo in der Nähe des Gebiets der Horde?“
„Die Horde ist das geringste unserer Probleme“, knurrte Broll. „Wir müssen Deckung suchen, und zwar schnell...“
Er fasste Lucan am Arm und zerrte ihn auf die Hügel zu. Tyrande hielt mit dem Druiden Schritt, das Götzenbild hatte sie sich unter den Arm geklemmt.
„Was ist los? Weitere albtraumhafte Kreaturen wie in Auberdine?“
Broll schnaubte. „Nein... nur ein noch größerer Albtraum.“ Er richtete die Finger auf den Himmel im Osten aus. „Da draußen ist ein Drache... und er ist schwarz.“
Thura beobachtete die Fremden von einer Hügelkuppe weiter im Westen aus. Zwei Nachtelfen und ein Mensch. Zwei Männer und eine Frau. Sie sortierte den Menschen sofort aus, denn er wirkte kaum wie ein Krieger, obwohl er sich im besten Mannesalter befand. Die beiden Nachtelfen schienen dagegen würdigere Gegner zu sein. Der Mann sah wie ein Schamane ihres Volkes aus, obwohl er als Nachtelf sicherlich eher ein Druide war. Thura respektierte die Macht, die sie aus der Natur zogen.
Die Frau faszinierte den weiblichen Orc am meisten. Denn Thura hatte stets das Verlangen, ihre Fähigkeiten mit denen des gleichen Geschlechts anderer Völker zu messen. Die Nachtelfe bewegte sich mit beeindruckender Anmut, und die Gleve, die sie trug, verlangte einiges an Kraft und Übung. Thura vertraute natürlich ihrer Axt, aber sie fragte sich, wie ein Kampf wohl ausgehen würde.
Doch die Realität löschte solch müßige Neugierde schnell aus. Was zählte war, dass die drei hier waren. Am gleichen Ort, zur gleichen Zeit wie sie. Die drei waren irgendwie mit ihrer Mission verbunden. Der offensichtlichste Grund hatte mit den beiden Nachtelfen zu tun. Thuras Ziel war ebenfalls ein Nachtelf. Sie waren Kampfgenossen. Die Frau war vielleicht auch seine Gefährtin.
Der breite Mund der Orcfrau weitete sich zu einem grimmigen Lächeln. Wegen ihnen bin ich hier, entschied sie. Sie werden mich zu ihm führen... sie werden mich zu Malfurion bringen... dem Verräter meiner Kameraden und Vernichter des Lebens...
Sie hatte gesehen, wie der Druide mächtige Magie gewirkt hatte, ein Vogel geworden war, der hoch fliegen konnte. Noch mehr als die Frau musste er schnell sterben, wenn sie gegen ihn kämpfte. Er war sehr fähig, fast so fähig wie der mörderische Druide in ihren Träumen. Es wäre eine gute Übung für ihr Duell mit ihrem eigentlichen Feind.