Broll verzog das Gesicht. „Aye, sehr schrecklichen... und als ich dann dachte, es wäre verloren, stellte sich heraus, dass es befleckt war...“
Die Gestalt in der Kapuze lachte verbittert auf. „Diese Befleckung war gar nichts gegen die wahre Gefahr, Druide... Du hast Glück, dass ich nur noch ein Schatten meiner Selbst bin, sonst hätte diese Verderbtheit vor gar nicht so langer Zeit dein Herz berührt...“
Der Druide machte sich für einen weiteren Angriff bereit, war aber so schlau, noch einen Moment zu warten. Er wollte mehr erfahren... und vielleicht eine Möglichkeit finden, Blutvergießen zu vermeiden. „Was meint Ihr damit?“
Sein Gegner blickte skeptisch. „Bist du blind? Hast du den Albtraum nicht gespürt?“
„Aye, ich habe ihn gespürt, so wie die meisten anderen Druiden auch! Zwar sind wir keine Drachen, doch auch wir haben für den Smaragdgrünen Traum gekämpft...“
„Dummes Geschwätz!“ Der schlaksige Elf wurde größer, seine Worte endeten in einem Brüllen. „Du weißt gar nichts! Du verstehst gar nichts! Nicht einmal ich habe verstanden, ich, der an ihrer Seite stand! Ich habe sie verraten, verriet den Traum und half dem Albtraumlord dabei, nicht nur dieses Reich zu erobern... sondern auch noch die ganze Ebene der Sterblichen!“
Jetzt wusste Broll zumindest, wem sie gegenüberstanden. Als der Drache weniger Elf seiner Gestalt nach wurde und mehr seiner eigenen Art glich, ging der Druide zu Tyrande. Sie würden all ihre Kraft brauchen, wenn sie dem Drachen entfliehen wollten.
„Ich kenne Euch nun“, sagte er ruhig zu dem halb verwandelten Riesen. „Ihr seid einer der korrumpierten Drachen! Ihr seid einer von denen, die der Albtraum gegen Ysera selbst einsetzt...“
Große ledrige Flügel breiteten sich über die gesamte Länge der Kammer aus. Lange scharfe Hörner stießen aus dem Kopf hervor. Der Körperumfang des Drachen nahm mehr als zwei Drittel des Raums ein. Grüne Drachen waren geschmeidiger als die meisten anderen, ätherischer. Doch dieser hier war ein Riese, der seinen langen Hals beugen musste, um stehen zu können. Die Augen blitzten so wild wie die von Lucan in seinen schlimmsten Zeiten. Broll erkannte, dass der Drache sie die ganze Zeit lang mit offenen Augen beobachtet hatte, obwohl die Augen von grünen Drachen normalerweise geschlossen waren, weil sie permanent halb im Traum lebten.
„Einer der korrumpierten Drachen... was für eine Vereinfachung, kleiner Nachtelf... Du kannst kaum verstehen, was das bedeutet! Du verstehst nicht, was es bedeutet, wenn Geist, Herz und Seele -Seele, so wie wir Drachen sie verstehen – entfernt werden, von der Dunkelheit aufgefressen werden und du in deine körperliche Hülle zurückgezwungen wirst!“ Wieder ertönte das bittere Gelächter und erschütterte die Höhle derart, dass einige der Stalaktiten abbrachen. Das Trio konnte den herabstürzenden Steinen ausweichen, doch der Drache ließ sich von den Tonnen Kalkstein und Fels, die gegen seine geschuppte Haut krachten, nicht im Geringsten ablenken.
„Einer der Korrumpierten“, wiederholte der grüne Riese. „Wäre das so, wäre ich nicht nur irgendeiner von ihnen!“ Der Kopf des großen Reptils neigte sich hinab und verharrte nur wenige Zentimeter von den Nachtelfen und dem Menschen entfernt. „Ich war mehr als das, kleine Kreaturen! Ich war ihr engster Vertrauter... und deshalb war mein Verrat so viel schlimmer und in letzter Konsequenz weitaus schrecklicher! Habt ihr die Schläfer gesehen? Habt ihr ihre Schatten gesehen? Das alles begann mit meiner Hilfe...“
Tyrande wagte etwas zu sagen. Ihre Stimme klang gleichmäßig und beruhigend. „Ich erkenne Euch jetzt, obwohl Ihr Euch in einer mir nicht vertrauten Gestalt zeigt. Doch jetzt seid Ihr ganz eindeutig nicht mehr korrumpiert. Ihr habt es überwunden...“
„Mit der Hilfe anderer... doch was ich damals nicht wusste, war, dass er mich erneut rufen würde... jeden Moment... ruft er mich! Er begehrt mich mehr als alle anderen, denn ich bin... war... ihr Geliebter... ihr Gemahl...“
„Gemahl?“ Broll knirschte mit den Zähnen. „Ihr seid...“
Der Drache brüllte und ließ ihn verstummen. Die Augen – diese kalten smaragdgrünen Augen – fixierten den Druiden. „Ja... ich bin Eranikus, erster Gemahl von Ysera...“ Sein Maul öffnete sich weit. „Und da ihr wisst, dass ich hier lebe... müsst ihr alle sterben...“
10
Einer nach dem anderen
Sturmwind war die letzte starke Bastion des menschlichen Volkes. Das Königreich hatte die Zerstörung von großen Teilen des Kontinents überstanden und war nach dem Ersten Krieg wieder aufgebaut worden. Varian Wrynn herrschte nun über Sturmwind – oder herrschte wieder.
Eine Zeit lang war er verschwunden gewesen, bis er erst kürzlich zurückgekehrt war. Von der Festung von Sturmwind aus, die genauso wie das Königreich hieß, versuchte der braunhaarige, ungestüme Anführer sowohl sein Land als auch die Allianz intakt zu halten.
Varian war ein getriebener Mann. Der Tod seiner geliebten Frau Tiffin während eines Aufstands vor beinahe dreizehn Jahren hatte ihn dazu gemacht. Sein einziger Trost war sein Sohn Anduin, der zur Zeit ihres Todes noch ein Baby gewesen war. Er hatte Varian während seiner langen Abwesenheit vertreten.
Angesichts von so viel Tragik und Kampf überraschte es nicht, dass König Varian unter schlimmen Träumen litt. Neuerdings schlief er nur noch mithilfe von Schlafmitteln, die diese Träume fernhielten. Doch sie waren nur die letzte Rettung. Bis er müde wurde, spazierte Varian über die Wehrgänge.
Er war ein großer Mann in mittleren Jahren, von herber Attraktivität und mit braunem Haar, das sich nicht zähmen ließ. Varian war für sein Volk der Inbegriff des Helden. Er selbst sah das eher gegenteilig. Doch er versuchte, sein Volk so gut zu führen, wie er konnte.
Aber nun drohte eine Gefahr, von der Varian nicht wusste, wie er damit umgehen sollte.
Sein Volk wachte nicht auf.
Jeden Tag stieg die Zahl der Schläfer an. Es hatte mit einem oder zweien angefangen, dann waren es fünf, zehn und mehr geworden. Mit jedem neu entdeckten Schläfer wurde die Bevölkerung nachdenklicher. Einige glaubten an eine Seuche, doch die Gelehrten, mit denen der König sprach, waren der Meinung, dass viel mehr dahintersteckte. Irgendeine Macht griff Sturmwind an und verwendete dabei eine merkwürdige Form der Zermürbung... Und Varian glaubte genau zu wissen, wer dahintersteckte.
Die Horde.
Er hatte keinen Beweis, doch es erschien Varian nur logisch. Es gab viel zu viele Elemente in der Horde, denen man nicht trauen konnte. Abgesehen vielleicht von den Orcs, die Varian allerdings auch verdächtig waren. Der König wusste keinen guten Grund, warum er an die Ehre von Blutelfen glauben sollte – Hochelfen, die sich nach dem Verlust des Sonnenbrunnens, ihrer Machtquelle, einer verzehrenden dämonischen Magie zugewandt hatten und süchtig nach dieser Teufelsmagie geworden waren. Er hatte auch keinerlei Vertrauen in die untoten Verlassenen, die behaupteten, sich selbst von der Herrschaft des Lichkönigs befreit zu haben. Die Tauren waren die Einzigen, die in Sturmwinds Anführer nicht den Wunsch auslösten, zur Waffe zu greifen. Doch seit sie an der Seite der Orcs standen, waren auch sie ihm suspekt geworden.
Varian beschloss, eine Nachricht an Lady Jaina Prachtmeer zu schicken, die Erzmagierin und Herrscherin von Theramore, das an der südöstlichen Seite von Kalimdor lag. Der Kontinent selbst befand sich im Westen der Großen See. Der König hatte schon die letzten Tage darüber nachgedacht, aber er hatte es immer wieder verschoben. Ihm war klar, dass er gleich zu Beginn mit Jaina in Kontakt hätte treten sollen.
Eine mit Helm und Rüstung ausgestattete Wache an der Mauer, die den stolzen Löwen von Sturmwind auf der Brustplatte trug, salutierte zackig. Sie war die erste Wache, an der Varian seit einiger Zeit vorbeigekommen war. Selbst die Dienerschaft in der Burg war um mehr als ein Drittel reduziert.
„Alles in Ordnung?“, fragte er.
„Ja, Mylord!“ Die Wache zögerte, dann fügte sie hinzu: „Alles in Ordnung, außer dem verdammten Nebel, der sich dort drüben aufbaut...“