„Eine zu lange Zeit“, antwortete der Kartograf.
„Und das ist sicherlich kein Zufall!“, zischte Broll. Die anderen blickten ihn fragend an. Er musterte Tyrande grimmig. „Wenn ich es richtig überblicke, begannen Lucans Albträume, kurz bevor Ihr Malfurions Körper gefunden habt...“
Trotz ihrer Größe konnten sich Orcs nahezu ungesehen fortbewegen. Thura bildete da keine Ausnahme. Sie hatte das Trio erfolgreich verfolgt und war ihm sogar nah genug gekommen, um ihre Stimmen hören zu können. Nicht alle Worte hatten Sinn ergeben, und einige waren unverständlich geblieben, doch ein Wort im Speziellen spornte sie an.
Der Name des Bösen. Des Nachtelfen. Malfurion.
Thura bekam das Wort nicht mit, das seinem Namen folgte, sonst hätte sie sich gefragt, ob ihre Beute bereits tot war. Deshalb wusste – oder glaubte – sie nur eine Sache: Bald würde sie Brox’ Mörder gegenüberstehen und demjenigen, der Azeroth verwüsten würde...
Die Orcfrau glitt zurück, immer noch verblüfft. Der Drache war jetzt nicht mehr da, stattdessen wirkte irgendein Zauber, so schien es zumindest. Sie hatte nicht genug verstanden, um die Wahrheit zu kennen.
Thura hatte nicht viel für Zauberer übrig. Sie waren Feiglinge, die sich in der Schlacht stets hinten hielten und sich dabei Methoden bedienten, die für einen ehrenhaften Krieger nicht infrage kamen. Dass sie Schamanen und sogar Druiden höher einschätzte, war weitgehend den Vorurteilen ihres Volkes geschuldet.
In ihren Augen waren diese Bedenken nur ein weiteres Hindernis, das sie beiseiteräumen würde, um ihren Blutsverwandten zu rächen.
Die Orcfrau arbeitete sich voran und suchte einen Punkt, von dem aus sie den Hügel als Ganzes überblicken konnte. Egal welchen Ausgang die drei auch wählten, Thura würde es mitbekommen. Und dann würde sie der Spur folgen. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie von Träumen geleitet wurde oder einfach Malfurions Gefährten folgte.
Plötzlich erklang ein Geräusch von oben, und Thura presste sich gegen eine nahe gelegene Bergwand. Die Orckriegerin blickte hoch und grunzte. Jetzt waren alle ihre Feinde da. Der Letzte hatte sich gerade gezeigt, auch wenn Thura immer noch nicht wusste, wie er aus der Höhle herausgeschlüpft war, ohne dass sie es bemerkt hatte.
Die schemenhafte Gestalt eines Drachen glitt über das Land. Thura beobachtete ihn, als er über den Hügeln schwebte, wo sie seine Wohnstatt vermutete. Am Nachthimmel war der Drache eine große schwarze Silhouette, es war schwer, die Echse von der Dunkelheit zu unterscheiden. Zum Glück hatte Thura das Tier bereits zuvor unter besseren Bedingungen gesichtet. Sonst hätte sie gerade an ihren Augen gezweifelt. Der Drache wirkte viel größer als vorher, geradezu riesig im Vergleich. Er war so groß, dass er unmöglich dasselbe Wesen sein konnte, das sie zuvor gesichtet hatte. Das hier war ein wahrer Riese unter Riesen.
Thura umfasste die Axt fester, bereit, sie einzusetzen, wenn es sein musste. Doch der Drache verweilte nicht länger, sondern flog weiter.
Und hätte Thura das Land besser gekannt, wäre ihr klar gewesen, dass der Drache nach Eschental flog.
11
Nach Schattengrün
Wenig Licht drang von draußen herein. Der größte Teil der Beleuchtung in der Höhle war immer noch Tyrandes Werk. Doch selbst das schwache Leuchten von draußen schien den Drachen immer nervöser zu machen.
„Das ist nicht normal“, murmelte er. „Der Himmel sollte heller sein.“ Eranikus schloss für einen Augenblick die Augen, sein Gesichtsausdruck verhärtete sich, dann öffnete er sie wieder und sagte: „Ihr hättet nicht bleiben sollen! Ich habe es draußen gesehen. Nicht die Wolken verdecken die Sonne, sondern ein Nebel, der sich eigentlich schon aufgelöst haben sollte. Es ist nicht normal... Ich spüre es – ich spüre den Albtraum näher als jemals zuvor...“
Der grüne Drache nannte das Reich selten bei seinem Namen, unter dem es seit ewigen Zeiten bekannt war. Für ihn existierte dort nur noch der Schrecken, zu dem es geworden war.
Über das Schicksal seiner Herrin Ysera sagte er nichts, was Broll nichts Gutes ahnen ließ. Obwohl auch er sich um seine Königin und Gefährtin sorgte, weigerte sich Eranikus kategorisch, sie nach Eschental zu begleiten – darüber stritten sie schon die ganze Nacht.
Eranikus blieb in seiner falschen Elfengestalt, als fürchtete er, in seinem wahren Körper erneut korrumpiert zu werden. Der Drache hatte sie mehr als einmal zum Gehen aufgefordert. Doch weder der Druide noch die Hohepriesterin würden ihm diesen Gefallen tun. Nicht einmal, wenn er ihnen drohte. Beide wussten, dass sie angesichts solch ernster Probleme jemanden brauchten, der sich im Smaragdgrünen Traum noch besser auskannte als Broll. Glücklicherweise war es recht offensichtlich, dass Eranikus keinerlei Absicht hatte ihnen zu schaden.
„Ich bin sehr geduldig mit euch gewesen“, knurrte der Drache und wandte sich von ihnen ab. „Geht, bevor ich euch hier rauswerfe.“
„Das hättet Ihr schon mehr als einmal tun können“, meinte Broll. „Und Ihr habt es nicht getan.“
„Verwechsle mein Elend nicht mit Schwäche!“, antwortete Eranikus und wandte sich an den Nachtelf. „Und nutze mein Bedauern nicht aus! Ich habe etwas Schlimmes angerichtet und weiß das auch. Doch selbst meine Geduld hat ihre Grenzen...“
Lucan hörte ihnen zu und ahnte, dass der Untergang bevorstand. Er hatte der Diskussion nicht folgen können. Er verstand jedoch, dass die Dinge schlechter wurden und dass alles irgendwie mit ihm zu tun hatte.
Er wollte zumindest ein wenig Ruhe haben. Und dieses Verlangen war allmählich immer stärker geworden. Der Kartograf gab dem Drängen schließlich nach. Da die Nachtelfen immer noch mit dem Drachen stritten – stritten, entschied sich Lucan fortzugehen. Nicht weit. Nur weit genug, um etwas Frieden zu finden.
Eranikus blockierte den Weg, durch den das Trio eingetreten war. Deshalb ging Lucan in die andere Richtung. Er wählte den Weg zufällig, wichtig war nur, dass er weit genug wegkam, um den Stimmen zu entkommen. Er wollte nur fort von hier.
Obwohl er kaum so unsichtbar wie der Druide oder die Hohepriesterin war, verließ der Mensch die Höhle, ohne bemerkt zu werden. Aufatmend schlenderte Lucan die enge Passage hinab.
Die Stimmen erklangen hinter ihm. Unbefriedigt ging Lucan weiter. Der Streit verblasste zu reinen Hintergrundgeräuschen, aber das reichte ihm noch nicht.
Lucan hatte den Lichtkegel, den Tyrande erschaffen hatte, verlassen. Doch etwas Licht von vorn erhellte das Dunkel ein wenig. Instinktiv ging er darauf zu.
Schließlich erreichte er einen Ausgang. Draußen war es zwar kaum heller, und der Nebel drang in den Durchgang ein. Aber trotz seiner Vorsicht spürte Lucan den Drang weiterzugehen. Es konnte nicht schaden, nur einen einzigen Schritt nach draußen zu tun. Beim geringsten Anzeichen von Gefahr musste er nur wieder hineingehen.
Von dieser Logik überzeugt verließ der Mensch den Durchgang. Er wurde von einer nebligen Landschaft empfangen, die ihn an die Gegend erinnerte, von der er schon geträumt hatte. Obwohl er sich fürchtete, ging er hinaus.
Doch nach einer Nacht in der Höhle draußen zu sein, verschaffte Lucan auch Erleichterung. Ich bleibe nur einen Moment hier draußen, dachte er. Vielleicht... vielleicht wissen sie dann, was zu tun ist...
Er wusste nur, dass er nicht die geringste Lust hatte, nach Eschental zu reisen. Er hatte bereits erkannt, dass der Ort mit dem Traumreich verbunden war. Lucan hatte den Nachtelfen verschwiegen, dass, je näher sie dem Ort kamen, den der Drache zu Recht Albtraum genannt hatte, das Gefühl immer stärker wurde, zwischen Azeroth und diesem Ort hin- und herwechseln zu müssen. Alles, was mit dem Traumreich verbunden war, rief ihn.
Das, so erkannte Lucan, war der Grund, warum er hier überhaupt gelandet war. Er war von Anfang an in Richtung des Drachen gegangen. Denn Eranikus war nicht nur ein Teil seiner gleichermaßen erstaunlichen wie schrecklichen Vergangenheit, einer Vergangenheit, mit der Lucan gerade erst zurechtkam. Der Drache war, zumindest in der Vergangenheit, zudem ein integraler Bestandteil des Albtraums gewesen. Was auch immer diesen Teil in Lucan geweckt hatte, schien entschlossen zu sein, ihn auf diesem Weg in das andere Reich zu locken... Und genau das wollte Lucan unter allen Umständen vermeiden.