Eranikus beobachtete die Landschaft.
„Kein Anzeichen von dem kleinen Menschen, nirgendwo! Obwohl ich beinahe blind bin, wenn ich meine Augen wie ein sterbliches Wesen benutze!“, zischte der Drache schließlich. Dabei verschwieg er, dass er es unter den gegebenen Umständen nicht wagte, zu viel Kontakt zum Smaragdgrünen Traum – und damit zum Albtraum – aufzunehmen. „Und der Weg hat sich wieder geschlossen!“
„Er wurde von einem Orc gefangen genommen, wie es scheint“, meinte Broll.
Der riesige Drache zeigte seine scharfen Zähne. „Er muss versucht haben zu fliehen, indem er seine einzigartige Fähigkeit benutzte.“
„Wenn er das getan hat... dann hat er den Orc mit sich genommen“, meinte Tyrande.
Immer noch schwebend neigte Eranikus den Kopf. „Ich habe den Orc hier gewittert. Doch es war nur ein sehr schwacher Geruch. Das bedeutet vielleicht, dass es nur ein Einziger ist. Und kein Orc wäre dumm genug, mich zu suchen...“, zischte er. „Anders als so manche Nachtelfen!“
Broll gefiel der Tonfall in seiner Stimme nicht. „Warum sollte ein Orc mehrere Tage lang hierbleiben? Was könnte er an diesem Ort wollen?“
„Es könnte reiner Zufall sein“, antwortete die Hohepriesterin. „Doch ich glaube, irgendjemand wollte den Orc von Anfang an hier haben. Wenn man zudem bedenkt, dass Lucan gleichzeitig hier auftaucht, der über seine Vergangenheit mit Eranikus verbunden ist, dann sind mir das ein paar Zufälle zu viel, um daran glauben zu können...“
Der grüne Drache grollte düster. Er blickte die Nachtelfen an. „Ich bleibe so lange bei euch, bis ich euch nach Eschental gebracht und sichergestellt habe, dass euer Weg dorthin frei ist! Mehr mache ich nicht!“
Obwohl beide dankbar waren, musste Broll fragen: „Warum habt Ihr Eure Meinung geändert? Warum bringt Ihr uns zu dem Ort, der für Euch doch so schrecklich ist?“
Eranikus starrte in die Luft, als ob er über etwas nachdachte. Schließlich sagte er: „Weil mir der Gedanke nicht gefällt, dass da etwas die ganze Zeit am Werke ist... etwas, das es einem Orc ermöglicht, den Albtraum zu betreten!“
Der Druide war skeptisch. „Aber aus welchem Grund?“
Der große Drache blickte besorgt. So besorgt, dass das Unbehagen des Nachtelfen wuchs. „Nun, das ist die Frage, kleiner Druide... das ist die Frage...“
Er landete, und mit der Spitze seines Kopfs bedeutete er den beiden, auf seinen Hals zu klettern. Tyrande war schon zuvor auf Drachen geflogen und gehorchte deshalb ohne zu zögern. Broll runzelte die Stirn, folgte dann aber auch. Seine Fluggestalt als Sturmkrähe konnte mit dem Tempo des Drachen nicht mithalten.
Als sie bereit waren, hob Eranikus ab. Er kreiste einmal, dann flog er in die Richtung, in der, wie der Druide vermutete, Eschental lag.
„Wie lange brauchen wir, bis wir da sind?“, rief Tyrande. „Wie weit ist es bis nach Eschental?“
„Nicht so lange, doch vielleicht zu lange!“, brüllte der Drache. „Drückt euch gegen meinen Hals und haltet euch fest!“
Sie rasten mit einer Geschwindigkeit über den Himmel, die den Nachtelfen beinahe den Atem raubte. Der böige Wind wäre vielleicht schwer zu ertragen gewesen, doch Eranikus bog seinen Hals so, dass er sie ein wenig davor schützte.
Broll beugte sich nach rechts. Aber nur so weit, um den Boden sehen zu können. Was er sah, beunruhigte ihn noch mehr. Überall war Nebel. Er war kein dickes Tuch, noch gab es ein paar freie Flecken. Doch das Muster erinnerte ihn an etwas.
Als Druide fiel es ihm schließlich ein. Äste... die Ranken des Nebels sehen wie Äste aus. Äste von einem bösen Baum...
Die Ähnlichkeit wurde noch durch die Bereiche verstärkt, die an Blätter mit zahnigen Kanten erinnerten. Broll wurde dadurch an die Visionen erinnert, die er zuvor durchlitten hatte, und er überlegte, wie das alles wohl zusammenhing.
Sie flogen immer weiter. Die Hügel wurden zu bewaldetem Land. Die Luft kühlte sich ein wenig ab. Die Wälder verdichteten sich zu saftigen grünen Forsten, die Broll von früheren Reisen her kannte.
„Ich sehe es...“, informierte Eranikus sie. „Schattengrün liegt direkt vor uns...“
„Direkt vor uns“, bedeutete für die Passagiere, dass es noch einige Minuten für sie außer Sieht blieb. Dann...
„Ich sehe es!“, rief Tyrande.
Broll tippte ihr zustimmend auf die Schulter. Auch er konnte schließlich den Großen Baum erkennen.
Er war kleiner als seine mächtigeren Geschwister. Doch er erhob sich immer noch hoch über die Region, ein wahrer König. Aus der Ferne schien sich der Baum in guter Verfassung zu befinden, auch wenn sein Fuß von Nebel bedeckt war. Seine großen Äste breiteten sich beinahe über eine Meile aus, und in seinen Zweigen konnte man viele Kreaturen erkennen, darunter einige, die als Wächter dienten. Er gehörte zu einer Handvoll von besonderen Bäumen. Die anderen standen zum Beispiel im erstaunlichen Kristallsangwald, der kein richtiger Wald war, sondern ein mystischer Ort im kalten Nordend, wo statt Bäumen Kristallformationen wuchsen. Ein anderer Baum stand im Hinterland, östlich des Nistgipfels gelegen, der Heimat der auf Greifen reitenden Wildhammerzwerge. Im düsteren und gefährlichen Dämmerwald wuchs ein weiterer dieser Bäume, und im tiefen, dunklen Dschungel von Feralas befand sich ebenfalls einer.
An all diesen Orten gab es Portale, aber für die Druiden und Broll war Eschental der mit Abstand sicherste Ort. Zumindest bislang.
Doch als sie sich näherten, sagte der Drache: „Die Gegend ist völlig unbelebt. Ich kann niemanden sehen, weder Nachtelf noch sonst jemanden...“
„Das kann nicht sein“, antwortete Broll. „Die Druiden wurden abberufen, es gab allerdings noch einige andere, die hier sein sollten!“
„Wir werden sehen.“ Eranikus kreiste einmal, dann sank er tiefer.
Als der Drache landete, konnten die Nachtelfen einen ersten Blick auf den Fuß des großen Baums und das Portal werfen, das ihre größte Hoffnung darstellte.
Das Portal war von Ranken gesäumt, und geriffelte, breite Säulen standen daneben. Ein aus Felsbrocken gebildeter Weg führte zwischen ihnen hindurch direkt zum Baum.
Das Portal selbst war rund. Es wurde von den Wurzeln des Baums geformt. Sie wanden sich umeinander und bildeten so einen Bogen. In dem Bogen waberte eine zweite Grenzschicht von violetter Farbe, die Energie ausstrahlte.
Doch der Kern zog alle Blicke auf sich. In dem Portal wirbelte smaragdgrüne Energie. Immer wieder leuchteten darin kleine grüne Blitze auf.
Dieses Portal war der Schlüssel zu ihrem Plan, Malfurion zu befreien. Es bildete gleichermaßen den physischen Weg in den Smaragdgrünen Traum und den Albtraum. Dabei war es der einzige Weg, dem man vielleicht noch trauen konnte – und er lag offen vor ihnen.
Aber das konfrontierte sie mit einer weiteren Sorge.
„Es ist, wie Ihr gesagt habt“, sagte Tyrande zu dem Drachen. „Niemand ist hier, obwohl viele Wächter anwesend sein sollten.“
„Könnten sie im Osten sein?“, fragte Broll. „Die Horde ist jüngst recht frech geworden und hat versucht, diesen Teil des Waldes abzuernten. Darüber war Malfurion bereits vor ein paar Jahren schon sehr besorgt.“
„Könnte sein“, gestand der Drache ein. „Doch die meisten Wächter sind meiner Königin unterstellt... und würden nicht weggehen, zumindest nicht ohne ihr Einver...“
Eranikus stieß ein erschrecktes Brüllen aus, als ein großer Fels auf seinen Rücken donnerte. Die Attacke war unvorbereitet gekommen. Und weil er gerade die beiden Nachtelfen transportiert hatte, hatte er sich nicht sonderlich um die Verteidigung gegen solch einen primitiven, aber mächtigen Angriff gewappnet.
Noch bevor der Drache wusste, wie ihm geschah, traf ihn ein zweites Geschoss. Eranikus taumelte auf das Portal zu und warf mehrere Säulen um.
Die Nachtelfen wandten sich dem Feind zu. Broll verwandelte sich in den schrecklichen Bären, und Tyrande umfasste die Gleve.