Die Nachtelfen wussten nicht, wie sie ihm helfen konnten. Sie wurden nicht nur von dem Urtum weggetrieben, sondern auch noch von den feindlichen Schemen voneinander getrennt.
„Hinfort von mir!“, brüllte Tyrande, die sich freizukämpfen versuchte. Mit der wirbelnden Gleve und dem Licht von Elune mähte sie durch die teuflischen Reihen. Die Satyre schmolzen förmlich hin wie Tau in der Morgensonne.
Broll nahm wieder Bärengestalt an. Dabei nutzte er das magische violette Feuer, um die mächtigen Schläge zu verstärken. Doch die Albträume schienen ohne Ende zu sein.
Mittlerweile hatte Lethon seine Aufmerksamkeit ganz auf Knorre gerichtet. Das Urtum hatte es geschafft, sich auf die Knie zu erheben, konnte seinen riesigen Gegner aber immer noch nicht abwerfen.
„Jetzt habe ich dich!“, brüllte Lethon wild grinsend, wodurch man seine zahlreichen Zähne sehen konnte.
„Ich habe lange gelebt... Ich fürchte den Tod nicht...“
Der korrumpierte Drache lachte noch rauer. „Tot haben wir nichts von dir...“
Mit seiner mächtigen Klaue schubste er Knorre tiefer in den Nebel hinein.
Das Urtum konnte sich am äußersten Rand abfangen. Erstaunt erhob er sich, um wieder in den Kampf zu ziehen.
Aus dem Nebel erschien eine dunkle Hand. Sie war klein, doch sie zerrte an Knorres Bein mit einer derartigen Heftigkeit, dass das Urtum hinuntersah. Plötzlich zog eine zweite, identische Hand an seinem Arm.
Andere Hände schossen aus dem Nebel. Sie ballten sich zusammen, als wenn sie alle Teile desselben Körpers gewesen wären. Knorre knurrte und versuchte sich loszureißen. Doch zu viele Hände hielten ihn mittlerweile fest.
Broll brüllte Tyrande eine Warnung zu. Die beiden Nachtelfen versuchten, sich den Weg zu ihrem Retter freizukämpfen.
Trotz seines titanischen Kampfes konnte das Urtum sich nicht selbst befreien. Immer mehr Hände zerrten an ihm. Sie packten ihn, hielten ihn fest umschlungen wie ein Verhungernder ein Stück Brot. Langsam begannen sie, Knorre in den Nebel zu ziehen.
Lethon geriet zwischen den Riesen und die Nachtelfen. Er wirbelte zu Broll herum, das Lachen des Drachen jagte dem großen Bären einen Schauder über das Rückgrat. Broll brüllte, während er gleichzeitig versuchte, einen Weg um ihn herum zu finden. Weiter hinten kämpfte Tyrande weiterhin gegen die Schatten, die sich zu einem neuen Angriff formiert hatten.
„Du verschwendest deinen Atem... niemand kann mir entkommen... niemand kann fliehen... du wirst zu uns gehören...“
Knorre war bereits halb im Nebel verschwunden. Immer noch packten mehr und mehr Hände seine Arme, zerrten an seinen Beinen und seinem Torso. Andere zogen den Kopf des Wächters zurück und versuchten, seine Stimme zu ersticken.
Doch Knorre konnte noch etwas rufen. „Flieht zum Portal! Flieht zum...“
Die Hände – geformt wie die von Nachtelfen, Menschen, Orcs, Tauren und anderen Kreaturen von Azeroth – bedeckten nun alle das Urtum. Es waren so viele, dass Knorre sich kaum noch bewegen konnte. Ein Fuß wurde in den Nebel gezogen. Eine Schulter folgte ihm, dann der ganze Arm. Knorres Kopf verschwand plötzlich in dem undurchdringlichen Nebel.
Das Urtum schauderte. Es schien die Blätter hängen zu lassen.
Die Hände zogen den Rest von ihm in den Nebel hinein.
Tyrande hatte einen Weg um Lethon herum gesucht. Doch erst als Knorre verschwunden war, kam sie plötzlich durch. Sie war so verzweifelt bemüht, zu ihrem Verbündeten zu gelangen, dass die Hohepriesterin bereits ein paar Schritte vorwärts machte, bevor sie erkannte, dass es nicht nur zu spät für Knorre war, sondern Lethon dieses Manöver nur zugelassen hatte, damit sie sein nächstes Opfer wurde.
Die ersten Hände griffen bereits nach ihr, so gierig wie immer.
Plötzlich war die Hohepriesterin gezwungen sich zu wehren, damit sie nicht auch Knorres Schicksal erlitt. Deshalb wandte sie sich von Lethon ab und setzte Elunes Licht und die Gleve gegen die Hände ein.
Ein titanisches Brüllen erschütterte die drei Kämpfer. Eine glitzernde Gestalt erschien unter ihnen. Eranikus.
Die geschlossenen smaragdgrünen Augen des Drachen richteten sich auf Lethon.
Der korrumpierte Drache brüllte plötzlich. Er wand sich und schrie: „Die Bäume... sie dringen auf mich ein!“
Als er das sagte, beobachteten Broll und die anderen, dass sich weiche, nebelige Bäume tatsächlich um den korrumpierten Drachen zusammenzogen. Auf den Druiden wirkten sie harmlos, heilend... doch für Lethon schienen sie das reinste Gift zu sein.
Doch dann schüttelte Lethon den Kopf. Die Nebelbäume verschwanden.
„Ich gebe dir eine Chance!“, brüllte Eranikus seinem Gegenstück entgegen. „Entsage der Korrumpierung, Lethon! Es kann gelingen!“
Lethons Blick auf Eranikus war mörderisch. „Solch armselige Traumattacken können mir nichts anhaben! Du träumst zu viel, mein lieber Eranikus... du träumst zu viel und verstehst zu wenig von dem, was ich durch die wachsende Macht des Albtraums geworden bin... “ Die versengten Wunden heilten. Lethon beugte sich vor, und obwohl er nicht so groß wie Eranikus war, wirkte er dennoch furchterregend. „Doch du wirst es verstehen, wenn du erst wieder einer von uns bist...“
Lethons Augen weiteten sich... dabei veränderten sie sich. Was die Gruppe zuvor gesehen hatte, waren nur Illusionen gewesen. Jetzt erkannten sie die schreckliche Realität.
Die Augen waren tiefe Klüfte der Finsternis, die jeden, auf den sie gerichtet waren, zu verschlingen schienen. In ihnen loderte derselbe Hunger, derselbe Schrecken, der die Hände angetrieben hatte. Doch in dem Drachen wurde es zu einem anderen Übel, einem persönlicheren.
„Ich bestehe nur noch aus Korrumpierung, Eranikus! Es hat mich verzehrt, und ich koste das aus...“
„Dann... gibt es keinen Grund für dich, weiterhin...“
Yseras Gemahl blickte Lethon an.
Broll bemerkte, dass der korrumpierte Drache nicht zusammenzuckte oder kämpfte. Stattdessen wartete Lethon... mit Vorfreude.
„Eranikus!“, rief der Druide. „Da ist noch einer!“
Lethon drehte den Kopf, und die hohlen Augen schienen Brolls tiefste Seele zu verschlingen. Der Druide keuchte, doch er bekämpfte die Übelkeit.
Der Nebel um Eranikus verwandelte sich zu einer schrecklichen Gestalt, die der personifizierte Albtraum war. Es war ein Wesen, das von Eranikus’ eigenem Volk abstammte, zumindest beinahe. Die Würde, die einen grünen Drachen ausmachte, war durch etwas ersetzt worden, das derart verwest war, dass sein Fleisch verfaulte. Sie war weiblich, doch nur schwer als Frau erkennbar. Fleischfetzen hingen auf der violetten Haut der Flügel, und ein Gestank nach Verwesung strömte über die Nachtelfen hinweg.
Tyrande erschauderte. Sie durchlebte erneut den Ersten Krieg gegen die Brennende Legion, als das Land nur so von unschuldigen Toten bedeckt gewesen war. Broll stieß einen Schmerzensschrei aus, als er Anessa abermals sterben sah, wie so viele andere in der Schlacht gegen die Dämonen am Berg Hyjal.
Diese neue Schreckgestalt hatte düstere schwarze Augen mit leichenblassen Pupillen. Sie packte Eranikus und schlug ihre skelettartigen Klauen in seine Vorderbeine.
„Hast du die liebe Smariss vergessen?“, fragte der makabere Drache mit einer Grabesstimme. „Wir verzehren uns danach, dich wieder bei uns zu haben, Eranikus...“
„Nein! Ich werde nicht zulassen, dass der Albtraum mich noch einmal nimmt!“ Er richtete seinen Blick auf sie.
Sie spuckte. Eine grüne faulige Substanz bedeckte Eranikus’ Auge.
Er brüllte und versuchte, den modrigen Stoff wegzuwischen, doch er blieb hartnäckig kleben. Und Lethon ging nun auch zum Angriff über.
„Wir haben dich so sehr vermisst...“, gurrte Smariss. „Lehne uns nicht ab... akzeptiere das Unausweichliche...“