Der Tauren neigte den Kopf und antwortete: „Wie du befiehlst, Erzdruide Fandral.“
„Ausgezeichnet! Nun kommt mit mir. Ich werde Euch mehr über den nächsten Versuch sagen. Es wird sehr mühevoll werden. Es könnte mehr als einen Tag der Meditation brauchen, um uns davon zu erholen...“
Fandral ging los. Hamuul konnte nichts anderes tun, als ihm zu folgen. Doch selbst als er dem Nachtelfen zuhörte, wie er seinen Plan erläuterte, blickte er auch zu dem Stamm zurück, den er berührt hatte. Er hatte das zusammenhanglose Flüstern gehört, und er wusste, dass es die Stimme des Weltenbaums gewesen war. Hätte nicht der oberste Erzdruide die Sache auch untersucht, wäre der Tauren noch besorgter gewesen, als er es ohnehin schon war. Doch es blieb noch genug Sorge, dass Hamuul sich weiterhin seine eigenen Gedanken machte...
Für Hamuul Runentotem konnte das nur eins bedeuten.
Teldrassil wurde verrückt.
Sie betraten das Portal nicht sofort, obwohl sie das eigentlich geplant hatten. Eranikus und Alexstrasza testeten es vorsichtig. Sie schickten ihre Kräfte weit hinein, um zu überprüfen, ob Lethon oder Smariss ihnen eine Falle gestellt hatten. Erst als sie keine fanden, gaben die Drachen das Portal frei.
„Wurde auch verdammt noch mal Zeit“, murmelte Broll. Tyrande nickte. Sie war derselben Meinung. Beide drängte es, Malfurion zu suchen. Doch eine Sache störte sie noch. Denn Lucan Fuchsblut und die mysteriöse Orckriegerin waren nach wie vor verschwunden. Die Orcfrau war wahrscheinlich nur durch Zufall in die Sache hineingeraten, aber dennoch...
„Ihr versteht immer noch nicht die wahre Gefahr des Albtraums“, antwortete der grüne Drache mit einiger Bitterkeit in der Stimme. „Seid nicht so begierig darauf einzutreten, ohne euch richtig darauf vorzubereiten.“
„Die Zeit drängt.“
Alexstrasza nickte zustimmend. „Genauso ist es, Broll Bärenfell. Doch wenn ich recht habe und Malfurion Sturmgrimm wirklich versucht, uns zu ihm zu führen, dann würde er wollen, dass wir die Dinge richtig überdenken.“ Der Drache lächelte grimmig. „Und das haben wir jetzt getan.“
„Ich bin bereit“, verkündete Eranikus.
„Bist du dir sicher?“, fragte der Aspekt.
Seine Bitterkeit wurde offensichtlicher. „Ja, bin ich. Ich schulde es meiner Ysera.“
Die Lebensbinderin neigte den Kopf. Ein warmes, tröstendes Leuchten ging von Alexstrasza aus. Es berührte die drei. Die Nachtelfen lächelten und selbst Eranikus wirkte dankbar.
„Möge mein Segen euch schützen und eure Jagd zum Erfolg führen“, sagte der Aspekt.
„Wir fühlen uns geehrt und danken Euch“, antwortete Tyrande.
Eranikus atmete ein, breitete die Flügel aus und trat auf das Portal zu. „Ich gehe vor... um euch zu decken.“
Die Energien innerhalb des Portals regten sich, als er näher trat. Ohne zu zögern ging der Drache in das Portal.
Und dann war er fort.
Broll und Tyrande traten auf das Portal zu.
„Ihr solltet hierbleiben“, sagte er zu ihr.
„Ich war schon viel zu lange von Malfurion getrennt“, gab sie zurück.
Bevor er irgendetwas anderes sagen konnte, sprang sie hindurch.
Broll stieß ein verärgertes Schnauben aus, dann folgte er ihr.
Das Gefühl, physisch in das andere Reich einzutreten, war, als würde man einschlafen. Als Lethon sie angegriffen hatte, hatte Broll keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken, doch jetzt erkannte er es. Es war völlig anders, wenn er seine Traumgestalt bewusst hierher schickte. Denn dann fühlte er sich, als hätte er eine schwere Bürde abgelegt und war schließlich frei von all seinen weltlichen Problemen.
Doch das war jetzt nicht so. Mehr denn je war er sich bewusst, was in dem Albtraum auf ihn lauern konnte. Doch im Moment sah er außer dem dichten Nebel nichts. Der Albtraum war also noch nicht völlig verschwunden.
„So können wir nicht reisen“, verkündete Eranikus. Der Drache flog direkt über den Nachtelfen. Seine Flügel schlugen langsam. Er wirkte, als würde man ihn durch fließendes Wasser hindurch sehen, ein weiterer Effekt, den Broll ebenfalls während ihres verzweifelten Kampfes nicht bemerkt hatte. Dasselbe galt für Tyrande.
Der Drache beugte sich zurück, dann hauchte er etwas in den Nebel hinein. Eine sanfte Gischt smaragdfarbenen Lichts berührte alles vor ihnen liegende.
„Elune, steht uns bei!“, keuchte die Hohepriesterin, als der Weg geräumt war.
In diesem Moment hätte Broll gern die Hilfe von jedem Gott oder Halbgott angenommen. Selbst die Gesellschaft eines Drachen schien im Moment nicht auszureichen.
Früher war der Smaragdgrüne Traum ein Ort gewesen, der wie ein Azeroth aussah, das niemals von irgendwelchen Völkern wie etwa den Nachtelfen besiedelt worden war. Seine Hügel und Berge waren perfekt gebildet, weil es keine Erosion gab. Hohes Gras und schöne Bäume hatten sich über die Landschaft ausgebreitet. Die Fauna war furchtlos und friedlich. Für Druiden wirkte es wie das Paradies.
Doch jetzt passte kein Name besser als der, den Eranikus benutzt hatte... Albtraum.
Das Land war mit einer feuchten, verfaulenden Substanz überzogen, die vor sich hin blubberte. Die schönen smaragdgrünen Schatten waren der Fäulnis gewichen. Die Bäume waren zu deformierten Parodien ihrer selbst geworden. Die Blätter schwarz, scharfkantig und voller giftiger Flecken. Kleines dunkles Ungeziefer krabbelte über die schorfige Borke und nährte sich an dem dickflüssigen übel riechenden Saft, der aus den Rissen im Stamm sickerte.
„Cenarius, steht uns bei...“, krächzte der Druide. Broll betrachtete seine Umgebung ungläubig und trat dann vor. Ein knirschendes Geräusch unter den Füßen lenkte seine Blicke nach unten.
Der Boden war bedeckt mit kleinen grünen Skorpionen, Tausendfüßlern, fingergroßen Schaben, Spinnen mit Körpern so groß wie eine Faust und anderem Ungeziefer. Ein dichter, klebriger Belag bedeckte die Unterseite von Brolls Sandalen, denn mit jedem Schritt zerquetschte er einige dieser Kreaturen.
„Sie sind überall“, keuchte Tyrande. „Sie bedecken den Boden, so weit das Auge reicht...“
„Nicht mehr lange“, antwortete der grüne Drache entschlossen. Er blies seinen Brodem über den Boden. Es war, als hätte Eranikus Feuer gespuckt. Das Knistern von Tausenden kleinen verbrennenden Körpern erfüllte ihre Ohren, und selbst der Drache erschauderte bei dem Geräusch.
Das Land, das Eranikus versengt hatte, war nun schwarz. Er nickte, zufrieden mit seinem Werk.
Doch plötzlich regte sich etwas innerhalb der gerösteten Insekten. Aus einer verbrannten gepanzerten Schabe platzten mehrere Beine heraus. Eine neue Schabe, so furchtbar anzusehen wie die letzte, schlüpfte aus ihrer Vorgängerin.
Und zum Missfallen der drei wiederholte sich das mit jedem der vernichteten Körper. Was immer Eranikus auch vernichtet hatte, wurde ersetzt...
Nebelranken waberten über die makabre Szenerie, als würden sie die Luft wieder erobern wollen, die Yseras Gemahl gereinigt hatte. Der grüne Drache stieß einen zweiten Atemzug aus, der den Nebel wegwischte... zumindest für den Augenblick,
„Es ist unglaublich...“, sagte die Hohepriesterin und versuchte erfolglos, sich vorwärtszubewegen, ohne auf etwas zu treten. Jeder Schritt wurde von einem Knirschen begleitet, das einen dichten Belag zerquetschter Insekten erzeugte. Und noch während sie weitergingen, setzte bereits die scheußliche Wiedergeburt ihrer Opfer ein.
„Das ist nur der Anfang...“, murmelte Eranikus. Das Leuchten seiner Augen war an diesem Ort schwächer. „Ich spüre, dass der Albtraum stärker geworden ist, schlimmer, als ich je gedacht hatte...“
Während er sprach, bemerkten alle die Bewegung am Rande des Nebels. Bald schon konnte man Umrisse erkennen... aber nur sehr vage.
„Die Schatten-Satyre sind zurückgekehrt“, sagte Tyrande.
Eranikus antwortete nicht. Stattdessen sandte er noch mehr Brodem aus und badete die nächsten der kaum sichtbaren Gestalten förmlich darin. Wie bei den Kreaturen unter ihren Füßen entflammten auch diese Wesen augenblicklich.