Ihre Wut war natürlich unangebracht. Aber sie trieb sie an. Tyrande hatte nur den vagen Umriss der Burg vor Augen, die es hier gar nicht geben sollte. Selbst durch den dichtesten Nebel blieb sie immer noch gut sichtbar. Wieder war sie sich bewusst, dass es eine Falle sein konnte, aber es war ihr einziger Hinweis auf Malfurion.
Tyrande dachte daran, dass da noch etwas anderes war, das im Nebel auf sie lauerte. Etwas, das sich danach verzehrte, sie zu erwischen. Sie wusste, es war an die Schläfer gebunden, die zu verletzen Eranikus gefürchtet hatte, als er ihre Traumgestalten angegriffen hatte. Doch sie spürte, dass dieses Etwas tiefer in den Albtraum hinabreichte und finsterer war als selbst diese Gestalten.
Und was es auch sein mochte, es kam immer näher und näher, während sie weiterging.
Dagegen schien sie der düsteren Burg keinen Schritt näher gekommen zu sein. Auch das machte ihr Sorgen. Im Albtraum waren Entfernung und Zeit ohne Bedeutung. Das hatte Malfurion ihr erklärt. Für ihn könnte die Gefangenschaft schon Jahrhunderte dauern statt Jahre. Er konnte ganz in der Nähe sein, es wäre aber auch möglich, dass sie mehrere Tage laufen musste, um ihn zu erreichen.
„Nein!“ murmelte sie. „Ich werde ihn finden, und zwar bald!“
Nein... nein... nein..., flüsterte der Nebel plötzlich mit tausend Stimmen. Nein... nein... nein...
Die Hohepriesterin blickte auf die feuchte, beinahe kaum sichtbare Landschaft und suchte die Flüsterer. Sie betete zu Elune, und die Gleve leuchtete. Tyrande richtete die Waffe nach links, doch sie erblickte nur weitere wegkrabbelnde Aaskäfer.
Aber jenseits des Lichts...
Tyrande bewegte sich darauf zu. Doch was auch immer es war, es zog sich mit dem Nebel zurück. Doch es war da, nur vage zu erkennen.
Und es wartete darauf, dass sie einen fatalen Fehltritt tat.
Mutter Mond, führt mich nun... stärkt meinen Willen..., betete die Nachtelfe.
Willen... Willen... flüsterte es um sie herum.
Sie schauderte. Nicht nur ihre Worte erklangen, sondern sogar ihre eigensten Gedanken. War sie denn nirgends sicher?
Nirgends sicher... nirgends sicher... nirgends sicher...
Tyrande hatte die Antwort. Nichtsdestotrotz dachte sie nicht daran, sich zurückzuziehen. Ihr Verlangen, ihre Mission war klar. Sie hatte niemals geglaubt, dass sie sich unbemerkt Malfurion nähern konnte. Die Hohepriesterin erwartete zu kämpfen, und es würde kein leichter Kampf werden. Wenn der Albtraum also wusste, dass sie da war und was sie wollte, machte es kaum einen Unterschied aus.
„Ich werde allem entgegentreten, was Ihr mir entgegenwerft“, murmelte sie dem Nebel zu. „Und ich werde Euch besiegen!“
Es gab kein spöttisches Geflüster. Aber ob das gut oder schlecht war, konnte Tyrande nicht beurteilen.
Sie ging weiter. Obwohl das Ungeziefer vor ihr floh, konnte sie erkennen, dass es auch schnell wieder zurückkehrte. Außerdem wurde der Boden immer glitschiger, als eine schwarz-grüne Substanz sie wieder daran erinnerte, dass die Innereien der Käfer alles bedeckten. Sie musste ihre Beine davon befreien, was ein irgendwie krankes, klebriges Geräusch verursachte. Sie kam immer langsamer vorwärts.
„Es bedarf schon mehr als das“, sagte sie dem Nebel.
Ein weibliches Lachen hallte durch das Grau. Es ließ Tyrande mehr frösteln als alles andere. Sie kannte es, träumte davon.
Es war Azsharas Lachen.
Doch die Königin der Nachtelfen war auf dem Grunde des Sees, wo ihre Stadt und der Brunnen der Ewigkeit einst gelegen hatten... zumindest, soweit Tyrande es wusste. Es war dieser kleine Zweifel, das Wissen, dass sie ja nicht tatsächlich bei Azsharas Tod anwesend gewesen war, was ihr schon seit Jahrhunderten Albträume bescherte. Obwohl die wahnsinnige Königin, die von Sargeras versklavt worden war und glaubte, dass sie die zukünftige Gemahlin des Dämonenlords werden würde, sicherlich keine Gelegenheit gehabt hatte, aus Zin-Azshari zu fliehen. Aber vielleicht war es ihr doch irgendwie gelungen.
Das ist also Euer Plan!, dachte sie trotzig zum Nebel. Eine dreiste Wahl und völlig übertrieben!
Um ihren Trotz zu betonen, breitete sie die Hände aus, als würde sie den neuen Angriff erwarten. Doch nichts geschah. Die schreckliche Königin materialisierte nicht plötzlich vor ihr, es erklang nicht einmal ein weiteres Lachen.
„Dann spielt Eure Spielchen“, sagte die Hohepriesterin laut. „Ich habe wichtigere Dinge zu erledigen.“
Erneut schritt sie voran, zertrat das Ungeziefer und kämpfte sich weiter. Allmählich schien die Nachtelfe näher an die Burg heranzukommen. Tyrande spürte teilweise, dass ihre äußerste Entschlossenheit ihr nun dabei half, Fortschritte zu machen. Der Albtraum gab – zumindest irgendwie – ihrem Willen nach. Nichtsdestotrotz traf sie zusätzliche Vorkehrungen, indem sie ein stummes Gebet zu Elune sandte, dass die Burg nicht plötzlich verschwinden oder im letzten Moment zurückweichen möge.
Der Geruch nach Verwesung wurde stärker und der Boden glitschiger. Tyrande hätte fast schwören können, dass er pulsierte, als wenn etwas Großes langsam atmete. Die Hohepriesterin redete sich selbst ein, dass dies nur der Albtraum war, der ihre Entschlossenheit brechen wollte. Doch sie wurde trotzdem vorsichtiger.
Dann rutschte sie aus. Tyrande konnte nichts dagegen tun. Mit dem Gesicht voran stürzte sie in den widerlichen Mist. Ein ekelhafter Schleim bedeckte ihre Lippen und brannte auf der Zunge. Sie spuckte ihn schnell aus, er konnte schließlich giftig sein.
Ihre Gleve lag ein Stück weit entfernt, im Nebel verborgen. Tyrande kam auf die Knie, was anstrengender war, als sie gedacht hatte. Der Boden war so glitschig, dass ihre Hände kaum Halt finden konnten.
Ein schabendes Geräusch richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Gleve.
Etwas zog die Waffe in den Nebel hinein. Die Gleve rutschte über den Boden, mehr und mehr gelangte sie außer Sichtweite.
Die Nachtelfe stürzte ihr nach und landete wieder auf dem Bauch. Nun war nur noch die Spitze zu sehen.
Sie beruhigte sich, rief das Licht von Elune an und leitete es auf das Schwert zu...
Etwas glitt hinter Tyrande her. Die Nachtelfe blickte sich sofort um, doch sie konnte nichts erkennen. Schnell richtete sie die Aufmerksamkeit wieder auf die Waffe.
Sie war fort.
Azsharas Lachen drang erneut an Tyrandes Ohren.
Sie versuchte, zur Quelle des düsteren Lachens herumzuwirbeln. Aber Tyrande beschmutzte sich dabei nur noch mehr. Schließlich nahm sie wieder bei Elunes Licht Zuflucht und hoffte, dass es den Boden härter machen konnte.
Doch als sie das versuchte, hörte sie erneut ein Schlittern. Tyrande weigerte sich aufzugeben. Aber sie konnte nicht widerstehen nachzusehen, was auf sie zukam...
Etwas Muskulöses, Feuchtes wickelte sich mit der Festigkeit einer Peitsche um ihre Kehle. Tyrande brach den Zauber ab, um das Wesen zu bekämpfen, das ihr die Luft raubte.
Es hob die Hohepriesterin mehr als einen halben Meter vom Boden an. Zur gleichen Zeit wurde das Gleiten lauter.
Und wieder ertönte das vertraute Gelächter.
„Was für ein schönes, süßes Wesen du doch bist! Das hatte ich glatt vergessen!“
Tyrande, die immer noch um Atem kämpfte, wandte sich nach rechts.
Ein monströses, blaugrünes Gesicht grinste sie anzüglich an. Es war elfengleich und doch auch ein wenig einem riesigen Fisch ähnlich. Finnenähnliche Ansätze standen nicht nur vom Kopf ab, sondern liefen gleichermaßen den geschuppten Rücken hinunter. Die Schuppen bedeckten auch das Gesicht und verliefen über die Brust.
Die Hände waren mit Schwimmhäuten überzogen und endeten in Klauen. Dadurch glichen sie denen eines Jägers im Meer. Dennoch waren sie den Nachtelfen ähnlicher als der untere Teil des Körpers, der eher wie eine Mischung aus Schlange und Aal wirkte.
Der übertrieben lange, stachelige Schwanz am Ende des Torsos versuchte mit wachsendem Erfolg, Tyrande zu erdrosseln.