„So schön“, säuselte Azshara.
Obwohl sie den Kampf um die Luft zu verlieren drohte, starrte Tyrande mit geweiteten Augen auf die Kreatur. Es war die Königin und dann auch wieder nicht. Azsharas Gesichtszüge lagen ganz eindeutig auf dem geschuppten Gesicht. Doch die Augen waren feurige rote Kugeln, die sich in den Geist der Hohepriesterin brennen wollten.
Und um sie herum näherten sich andere glitschige Gestalten. Die weiblichen hatten Ähnlichkeit mit den Nachtelfen, doch die männlichen wirkten primitiver und wilder. Ihre Gesichter waren wie von einem fleischfressenden Fisch, und ihre gierigen roten Augen zeigten, dass sie dem Genuss von Fleisch nicht abgeneigt waren.
Wenn dieses Monster wirklich Azshara war, dann konnten diese Kreaturen nur die Hochgeborenen sein. Sie gehörten zu der Kaste treuer Diener, die sich der Königin in ihrem Wahn angeschlossen hatten. Nichts anderes hatte für sie existiert, als Azsharas Ruhm zu dienen, selbst wenn Tausende anderer Elfen dabei starben.
Nun... dienten sie ihr immer noch. Nun waren sie, wie Azshara, zu einem Schrecken geworden, den Tyrande kannte. Die Schlangengestalt war unverwechselbar.
Es waren die Naga. Die scheußlichen Bewohner der Meere.
„Einst bot ich dir einen Platz an meinem Hofe an“, murmelte die Königin freundlich, als sie mit ihrem Schwanz Tyrande so nah zu sich heranzog, dass ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Extremer Gestank ging von Azshara aus... ein Gestank, der an eine Leiche erinnerte, die seit Tagen im Wasser gelegen hatte. „Solch eine feine Kammerzofe hättest du abgegeben...“
Tyrande versuchte, Elune anzurufen. Doch das Licht, das sie bereits wirkte, wurde nur noch blasser. Als es schwächer wurde, kamen die Naga näher, begieriger. Sie umzingelten sie...
„Und dienen sollst du mir immer noch...“, sagte die Königin und grinste mit gebleckten Reißzähnen.
Die Beine der Nachtelfe klatschten zusammen. So sehr sie es auch versuchte, die halb ohnmächtige Tyrande konnte sich nicht lösen. Sie spürte, wie ihre Beine förmlich zusammenschmolzen.
Azshara verwandelte sie in eine Naga.
Tyrande zog fester an dem Ring um ihren Hals. Sie war kaum noch bei Bewusstsein. Das Denken fiel ihr schwer.
Doch mit dem letzten bisschen Bewusstsein erfüllte Malfurions Gesicht ihre Gedanken. Er sagte nichts, blickte sie nur aufmunternd an.
Das regte die Hohepriesterin zu einem weiteren Versuch an, ihre Herrin anzurufen. Obwohl Tyrande nicht sprechen konnte, bildeten ihre Lippen Elunes Namen.
Das silberne Leuchten von Mutter Mond erfüllte sie.
Sie verlor das Bewusstsein.
Azshara – alle Naga – waren nirgendwo mehr zu sehen. Tyrande lag bewegungslos auf dem glitschigen Boden, die Aaskäfer krochen langsam über ihren Körper. Der Nebel verdichtete sich um die Hohepriesterin.
Doch Tyrande bewegte sich immer noch nicht. Sie lag dort, mit den Händen an der Kehle...um ihre Kehle.
Als wollte sie sich selbst erwürgen.
15
Die Verteidigung des Traums
Den mächtigen Mauern von Orgrimmar mangelte es an der „Kultiviertheit“ von Sturmwind, ihre schroffe Majestät war dennoch unübersehbar. Groß, mit schweren Wachtürmen, die das umgebende Land überblickten, waren sie eine Warnung an jedermann, der töricht genug war, angreifen zu wollen. Sie prophezeiten einen hohen Blutzoll.
Ernst blickende Posten patrouillierten auf den inneren Wehrgängen, unter ihnen eine Anzahl von Dunkelspeertrollen und selbst untote Verlassene.
Den Menschen wäre Orgrimmar wie ein barbarischer Ort erschienen mit seiner Bevölkerung, die auf kleine Täler verteilt war, statt in Vierteln zu leben, und seinen dorfähnlichen Bauten, die besser zur nomadischen Vergangenheit der Orcs passten. Dennoch war Orgrimmar ein genauso wichtiges Zentrum für die Gemeinschaft der Orcs wie es die Hauptstadt von Sturmwind für ihre Bewohner war. Tausende lebten hier, handelten, lernten, bereiteten sich auf den Krieg vor...
Am Fuß des Berges, nahe dem Tal von Durotar gelegen, war Orgrimmar das Symbol des Kampfes ihres großen Befreiers Thrall, der seinen Anhängern ein richtiges Zuhause geschenkt hatte. Während Thrall das Tal nach seinem ermordeten Vater benannt hatte, ging der Name der Stadt selbst auf jenen Kriegshäuptling zurück, der dem entflohenen Sklaven und Gladiator Schutz geboten und der Thrall später zu seinem Nachfolger ernannt hatte.
Thrall regierte von der Feste Grommash aus, die sich im Tal der Weisheit erhob, einem zentralen Bereich der Hauptstadt. Grommash war mit jedem Zoll wilde Schönheit.
Die Feste bestand aus großen runden Gebäuden, die von scharfen Spitzen gekrönt wurden. Es gab runde Eingänge und zahlreiche Dekorationsstücke an den grauen Steinwänden, die wichtige Siege des Kriegshäuptlings und der Horde zeigten. Darunter befanden sich furchterregende mumifizierte Köpfe von Kreaturen, die von der Brennenden Legion eingesetzt worden waren, Waffen und Rüstungen, die von den Dämonen selbst stammten, und sogar Rüstungen und Banner eines anderen Feindes – der Allianz. Dass die inzwischen zu den Verbündeten gehörte, machte für die Orcs keinen Unterschied – es waren Siege gewesen, und so wurden sie auch geehrt und zur Schau gestellt.
Doch an glorreiche Siege dachten die Orcwachen und der Schamane zurzeit nicht, die sich im Heim des Kriegshäuptlings versammelt hatten. Die Krieger beobachteten ängstlich, wie der Schamane Kreise über der liegenden Gestalt in die Luft malte. Sie ruhte in dem grob gearbeiteten Eichenbett, die Felle wilder Tiere dienten als Decken. Jedes Mal, wenn der Schamane seine Hand wegzog, beugten sich die Krieger erwartungsvoll vor... aber nur, um sich kurz darauf wieder enttäuscht zurückzulehnen.
Die Gestalt im Bett schlug plötzlich um sich und murmelte etwas. Ihre Hände wischten durch die leere Luft. Dann bewegte sie den Arm, als führe sie eine Axt.
Diese Bewegung ermutigte die Zuschauer nicht gerade. Sie hatten sie schon viele Male gesehen. Thrall war dem Erwachen nicht näher als beim letzten Versuch des Schamanen.
„Er hat immer noch diese schrecklichen Träume“, meinte der grauhaarige Schamane. „Sie plagen ihn immer wieder, und nichts, was ich tue, kann sie durchdringen...“ Der alte Orc, dessen Haare silberweiß waren, blickte durch tief liegende Augen auf den Dolch, der auf einem runden hölzernen Tisch in der Nähe lag. Er hatte ihn zuvor benutzt, um den schlafenden Häuptling zu piksen, in der Hoffnung, dass ein plötzlicher scharfer Schmerz den Albtraum zu durchbrechen vermochte.
Das war ebenfalls schiefgegangen.
„Legen wir ihn zu den anderen?“, fragte eine der Wachen zögernd. Der andere Wachtposten schlug ihm augenblicklich kräftig vor den Kopf. Wache Nummer eins blickte die zweite an, und wenn nicht der runzelige Schamane sich zwischen sie geworfen hätte, wäre ein Kampf ausgebrochen.
„Schämt euch, alle beide! Der große Thrall liegt hier verzaubert, und ihr bekämpft euch! Würde er das wollen?“
Die beiden gemaßregelten Krieger schüttelten die Köpfe. Obwohl sie doppelt so schwer waren wie der in Bärenfell gekleidete Schamane, fürchteten sie seine Macht. Er war der talentierteste Schamane in Orgrimmar. Eigentlich gebührte dieser Titel Thrall selbst. Aber der alte Schamane war zumindest immer noch wach. Deshalb war er derzeit die beste Wahl.
Doch diese Hoffnung schwand allmählich.
Von der anderen Seite der Kammer her ertönte ein klagendes Geheul. Wie ein Mann wandten sich die Orcs um und blickten die große weiße Wölfin an, die am Fenster bellte. Das Tier war so groß, dass jeder der Krieger darauf hätte reiten können, als wäre es ein Pferd. Tatsächlich benutzte der Kriegshäuptling seinen loyalsten Untertanen genau zu diesem Zweck. Die beiden waren legendäre Partner im Kampf. Die Wölfin hatte freien Zugang zum Gebäude, und keine Wache beklagte sich je darüber.
Das schwere Tier stieß ein weiteres Heulen aus. Das Geräusch erschütterte die Krieger und den Schamanen mehr als alles andere seit der Entdeckung von Thralls Zustand.